Im März 2015 zeigte das Österreichische Filmmuseum zwei Programme mit kurzen Filmen und Ausschnitten aus Filmen verschiedenster Herkunft, die in letzter Zeit restauriert wurden. Ein ebensolches, breiter angelegtes Programm präsentierte Alexander Horwath, der Direktor des Filmmuseums, im November des Vorjahres in den Anthology Film Archives in New York. Es handelt sich dabei um ein Sammelsurium von Fundstücken, die außer ihrem ursprünglich schlechten technischen Zustand nichts gemeinsam haben.
Wie um dieses Manko bei der Erstellung der Programme zu beheben, behauptete Horwath im Programmheft vom März einen Zusammenhang, der sich aus der übergeordneten Moderne des Kinos ergeben soll. Das eine Programm nannte er „Kunst der Moderne: Kino“ und das andere „Archiv der Moderne: Zettelkatalog“.
Die gesammelten und aus dem Archiv geholten Filmstücke versteht Horwath als „unessentially essential“, als „Rohstoff“, Dokument, ja selbst als Trash, aber vor allem als Beispiele einer „Techno-Ästhetik“ des Kinos, dessen Reproduktionstechnik dem Kriterium des Fortschritts als Kennzeichen der Moderne noch immer gerecht wird. Jedes Filmmaterial wäre demnach dank seiner technischen Herstellung, zudem nobilitiert durch die Präsentation im Kino, Teil der Moderne.
Die Unverbundenheit der Filme der beiden Programme im März wird in keiner Moderne aufgehoben, sondern ist Kennzeichen der Postmoderne, die im konkreten Fall durch die Restaurierung in der digitalen Gegenwart angekommen ist. Die Filme sind keinem semantischen Bezugssystem zuordenbar, sondern bleiben reine heterogene Präsenz. Die Titel der einzelnen Filmstücke (z.B. Hitlerjugend in Salzburg oder Tante Klementine) würden im „Zettelkatalog“ des Internets als tags den Zugang zum digitalen Datenstrom aus Bildern und Worten öffnen und zu Clips auf diversen Internet-Plattformen führen, wo sie Gefahr liefen, ohne Follower im Meer der Daten wie Millionen andere unterzugehen.
Ginge es nur um diese beiden Programme, wären die hier gebrachten Einwände verzichtbar. Es zeigt sich aber, dass sie für ein grundsätzliches Problem stehen, das mit der Postmoderne Einzug gehalten hat: die Geschichtslosigkeit und die damit verbundene Kritiklosigkeit.
Die Absetzbewegung von der Moderne mit ihrem Kanon künstlerischer Werte durch deren postmoderne Dekonstruktion führt zu einem Pluralismus, durch den „das Kunstsystem in einen Modus verminderter Urteilskraft in Bezug auf Qualität und Rang ihrer neuesten Werke“ gerät.[1] Wie sich zeigt, gilt dieser Modus nicht nur für neue, sondern auch für die Neubewertung alter, in den Archiven vergessener Werke. Die Kriterien der Avantgarde, mit denen sie ihre historischen Zäsuren setzte, werden in der Postmoderne zu einem heterogenen Nebeneinander, mit dem sich die Kunstkritik und die Geschichtsschreibung, sofern es sie überhaupt noch gibt, entsprechend schwer tun.
An den Schaltstellen des Kunstbetriebs, in Galerien, Museen und Ausstellungshallen, wird der postmoderne Abschied von den Urteilsspielräumen der Moderne gekonnt unterlaufen, indem über die Auswahl des Gezeigten, den Markt und die Präsenz in den Medien Hierarchien nicht nur aufgehoben, sondern unter der Hand neu geschaffen werden. So auch im Österreichischen Filmmuseum.
Mit der Restaurierung von kunsthistorisch beglaubigten „wichtigen“ Filmen und „ephemeren“ Fundstücken und ihrer gemeinsamen Präsentation geht einher eine von Horwath betriebene Aufwertung von Filmen, die bisher keine Beachtung gefunden haben, aber mit dem historisch Bekannten durch ihre wiedergewonnene Präsenz in einer diffusen übergeordneten Moderne des Kinos versöhnt werden sollen.
Das gilt unter anderem für Eine Fuge (1959) von Jörg Ortner, ein Kurzfilm, dessen Qualität auf diese Weise jeder kritischen Betrachtung entzogen ist. Eine Fuge und der Name des Filmemachers scheinen in keiner einzigen Publikation zum österreichischen Film auf, was angesichts der Übersichtlichkeit der Filmszene einen Rückschluss auf die frühere Einschätzung der künstlerischen Bedeutung des Films zulässt, denn gesehen worden war er schon.[2] Eine künstlerische und historische Neubewertung stünde dem Film zweifellos zu, wäre sogar notwendig, ehe er in einem Programm wie jenem in New York zusammen mit Filmen der Wiener Avantgarde alleine mit der Begründung gezeigt wird, wie diese restauriert worden zu sein.
Ein anderer von Horwath als Experiment bezeichneter kurzer Film ist Prater, 1929 hergestellt von Friedrich Kuplent, damals der Leiter eines Amateurfilmklubs, der Kameratechniken – Doppelbelichtungen, Blenden, prismatische Brechungen etc. – verwendete, von denen die russische, französische und deutsche Filmavantgarde in den Jahren davor ausgiebig Gebrauch gemacht hatte. Das Tun von Amateuren diverser Film- und Fotoklubs beruht auf dem Prinzip der technisch oft ehrgeizigen Nachahmung bekannter Vorbilder. Man kann Prater daher nur dann als „experimentell“ bezeichnen, wenn man das geschichtliche Umfeld und die Tatsache, dass er das technische Imitat von Experimenten anderer ist, ausblendet. Die gebräuchliche synonyme Verwendung der Begriffe Avantgarde und Experiment im Film würde ihre Bedeutung verlieren, wenn ein nachvollzogenes Experiment auf der gleichen Stufe stünde wie das Original.
Ein drittes Beispiel für eine stille Umschreibung der Filmgeschichte durch die Öffnung des „Marktes“ für Filme mit technischer und darum künstlerischer Verträglichkeit stellen die 3 Humanic-Werbefilme (1971 und 1973) von Axel Corti dar. Anders als Eine Fuge und Prater waren sie sehr bekannt, die erfolgreiche Verwendung etablierter avantgardistischer Mittel für kommerzielle Zwecke bestimmte den Status der Filme. Auf die Idee, sie als Experiment oder Avantgarde zu bezeichnen, kam jedoch niemand. Bis jetzt. Bis 2012, um genau zu sein. Da wurde „Breaking Ground“, ein mehrteiliges Tournee-Programm österreichischer Avantgarde- und Experimentalfilme, zusammengestellt, in das ohne Begründung die 3 Werbefilme aufgenommen wurden. Ausschlaggebend dafür war der Fundus, aus dem sie stammten, und die Ahnungslosigkeit des amerikanischen Kurators.
[1] Harry Lehmann: Zehn Thesen zur Kunstkritik, in: Autonome Kunstkritik. Kadmos, Berlin 2012, S. 21.
[2] Der Film wurde zusammen mit Peter Kubelkas Filmen bei deren Präsentation in der Galerie St. Stephan am 2. Juni 1959 gezeigt, was ich einem unveröffentlichten Text von Paul Kruntorad von 1996 entnehme. (In dem von Gabriele Jutz und Peter Tscherkassky herausgegebenen Buch über Kubelka von 1995 scheint diese Aufführung nicht auf.) Jörg Ortner (1940-2011) studierte in Wien an der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt und an der Akademie der Bildenden Künste und lebte ab 1961 in Paris, wo er als Graphiker arbeitete.