Kolik Film 14/2010
Begriffe verändern ihre Bedeutung durch ihren Gebrauch. Das sichert ihnen Langlebigkeit. Im Falle von „Experimentalfilm“ und „Avantgardefilm“ kann man das so sehen. Lars Henrik Gass meint in seinem Aufsatz „Experimentalfilm oder Film-Avantgarde?“ (Kolik Film, März 2010), dass der Begriff Experimentalfilm deshalb so erstaunlich überlebensfähig sei, weil er „vollkommen unspezifisch“ ist. Das gilt es zu hinterfragen.
Zunächst ist festzustellen, dass „Experimentalfilm“ und „Avantgardefilm“ trotz aller Diskussionen in der Vergangenheit heute nach wie vor synonym für jene Filme verwendet werden, die der modernen Kunst zuzurechnen sind. Das hat drei einfache Gründe: erstens bedürfen diese Filme, anders als andere Künste, durch ihre Bezeichnung nach wie vor einer Abgrenzung zum Mainstream; zweitens wurde kein Begriff gefunden, der sie auf Dauer ersetzen konnte; und drittens verlieh diesen Begriffen ihre lange Geschichte eine Stabilität und einen Gebrauchswert.
Ich habe bereits an anderer Stelle beschrieben, dass der Begriff Experimentalfilm im deutschsprachigen Raum eine andere Entwicklung hatte als in anderen Ländern.1 Das hängt damit zusammen, dass das Wort Experiment in den frühen sechziger Jahren eine Bedeutung bekam, die weitgehend negativ gelesen wurde. Wesentlich dazu beigetragen haben Hans Magnus Enzensberger und Siegfried Kracauer, die in ihren einflussreichen Schriften2 von der Kunst verlangten, dass sie nicht „lebensfremd“ neben oder außerhalb der Gesellschaft stattfinde, sondern Verantwortung übernehme. Kunst, die nicht aus der von ihnen behaupteten Unverbindlichkeit heraustritt und nicht Selbstzweck sein will, bleibt ewig in einem Experimentierfeld ohne gesellschaftlichen Wert. Das Experiment wurde damit im wissenschaftlichen Sinne zu einem Versuch oder einem „bloßen Herumbasteln“, wie L.H. Gass schreibt, ohne handfestes Ergebnis, weshalb Kracauer dem Experimentalfilm die Existenzberechtigung überhaupt absprach. Diese Beurteilung blieb in Deutschland und Österreich an dem Begriff bis heute haften.3 Ich las kürzlich in einer Zeitung die Überschrift „Experimentierspreu und Qualitätsweizen“. In dem Artikel ging es um den Fotopionier Heinrich Kühn, und nicht zufällig bezog sich die Überschrift auf den Marktwert der Arbeiten. Zur Zeit des deutschen Wirtschaftswunders lief der von Enzensberger und Kracauer geforderte gesellschaftliche Gebrauchswert der Kunst letztlich ebenfalls auf ihren Marktwert hinaus.4
Angesichts dieser Vorgeschichte ist es kein Wunder, dass Filmemacher in den sechziger und siebziger Jahren davor zurückschreckten, das Wort Experiment zu verwenden. Zur Geschichte des „Avantgardefilms“ gehört, dass der Begriff bestimmten Epochen zugerechnet wird, besonders der frühen Avantgarde in Frankreich und Deutschland, und deshalb wie beim „Experimentalfilm“ vorübergehend Irritationen beim neuerlichen Gebrauch auftraten. Doch das hat sich gelegt, wenn auch nicht überall, wie der Text von Gass zeigt.
Was aber bedeutet Experiment in der Kunst tatsächlich? Ich möchte ein Beispiel anführen, das ich sehr erhellend finde. Kurt Kren sagte in einem Interview im Zusammenhang mit zwei Filmen, Asyl und An W + B, bei denen er neue Techniken verwendet hatte, folgendes:
„Das ist ja die Sache bei allen Filmen, die ich je gemacht habe, das Abenteuer, dass ich nie genau weiß, was dabei herauskommt. Ich bin ja nicht so wie manche andere Künstler, die, wenn sie einmal den Schmäh gefunden haben, immer wieder das gleiche wiederholen, sondern was ich will ist, immer wieder etwas Neues zu erfinden, auch neu für mich. Und wenn ich dann meinen Film zum ersten Mal auf der Leinwand sehe, denke ich, oh Gott, was habe ich da gemacht. Und ich muss meinen Film zweimal oder dreimal sehen, bis ich in meinen eigenen Film hineinkomme. Und wäre es nicht ein Abenteuer gewesen, hätte ich nie einen Film gemacht.“ 5
Bei den genannten Filmen und einigen anderen, für die Kren Techniken verwendete, deren Ergebnis ungewiss war, bedeutet Abenteuer Experiment. Bei anderen Filmen mochte Abenteuer andere geänderte Voraussetzungen meinen, gleich blieb in allen Fällen, dass Kren das Experiment nicht auf den Stand der Kunst außerhalb seines Werkes bezog, sondern alleine auf seine eigene künstlerische Entwicklung. Worauf es ihm dabei ankam, war nicht die Technik selbst, obwohl er sie zur Erklärung der Filme genau beschrieb, sondern der Erkenntnis- und Erfahrungswert, den ihr Gebrauch liefert. Dass der Ausgangspunkt auch ganz woanders gelegen sein kann, in der Kunst anderer oder in der Wissenschaft, versteht sich von selbst. Und damit verschränkt sich Experiment mit Avantgarde.
Das experimentelle Weiterentwickeln – so könnte man den Avantgardebegriff bezeichnen – war ein zentraler Beweggrund der Moderne des 20. Jahrhunderts. Joseph Beuys sagte: „Ein Kunstwerk, ein wirkliches Kunstwerk aber will ja den vorliegenden Bestand um ein Neues erweitern, ein neues Licht auf alles werfen, eine Neuigkeit einbringen in den Bewusstseinsbestand.“ 6 Dazu kann sehr wohl die Technik beitragen. Insofern sind Experiment und das künstlerische Medium eng verbunden.
Dass eine Verschränkung von Experiment und Avantgarde stattfinden kann, heißt nicht, dass beide gleichzusetzen sind. Es gibt unzählige Experimente in allen Bereichen der Kunst, die trotzdem mit Avantgarde nichts zu tun haben. Noch ein aktuelles Beispiel aus der Zeitung: „Ich halte es für einen durchaus positiven Impetus, wenn jemand ein Suchender ist, der sich nicht festlegen kann, weil er experimentiert.“ Das sagt der Leiter der Sammlung Friedrichshof über die Malerei von Otto Mühl, in der dieser von Malstil zu Malstil wechselte. So wie hier hat das Wort Experiment auch im Mainstream oder in kommerziellen Medien seine Berechtigung, wenn diese einen Beitrag zu einer Weiterentwicklung leisten, selbst wenn sie wie Mühl bloß auf frühere Positionen der Kunst zurückgreifen. Mit dem Wort Avantgarde ist es insofern ähnlich, als der Sprachgebrauch erlaubt, einen Vorreiter in einem Teilbereich, etwa in der Unterwasserfotografie, als Avantgardisten zu bezeichnen.7
Kurt Kren hat, meines Wissens, seine Arbeiten nie als Experimentalfilm bezeichnet. Interessant ist, dass bei den Einreichungen zu den Kurzfilmtagen Oberhausen 2009 von 5711 FilmemacherInnen, wie L.H. Gass berichtet, 1496 ihre Werke als „experimentell“ einstuften. Ich vermute, dass es sich nicht um Experimentalfilme im klassischen Sinne handelte, sondern „experimentell“ signalisieren sollte, dass formale Bemühungen gegenüber gängigen Erzählweisen im Vordergrund standen, also ein qualitativer Mehrwert erbracht wurde. Es ist somit festzuhalten, dass Experiment, Experimentalfilm und experimentell Begriffe sind, die verschiedene Bedeutungsebenen ansprechen. Es ist Gass zuzustimmen, wenn er sagt: es geht um Nuancen.
Um den Wert eines Experiments über die persönliche Erfahrung des Experimentators hinaus im künstlerischen Ergebnis feststellen zu können, sind Parameter hinzuzuziehen, die dem Begriff Experiment fehlen, aber bei der Avantgarde traditionell zu finden sind. Avantgarde bedeutet sowohl eine Bewegung (das Neue weiterbringen) als auch eine zeitliche Bestimmung (voraus [gewesen] zu sein). Hier also sind die historischen Maßstäbe anzusiedeln bzw. einzufordern, die dem Experiment abgehen. Und hier beginnt es erst kompliziert zu werden.
Gass bringt das Werk von James Benning ins Spiel und meint, es gebe kaum etwas Experimentelleres als diese Filme mit einer Länge und Statik der Einstellungen, die er für provozierend und darum experimentell hält. Nun liefert die Filmgeschichte zahlreiche Beispiele für Filme, die aus starren und sogar ungleich längeren Einstellungen bestehen, man denke nur an Warhol, was bei Benning folglich den Begriff Avantgarde wegfallen lässt; als experimentell ist diese für sich simple Technik auch nicht einzustufen, es sei denn es kommen kunstvolle Varianten zustande, wie sie Michael Snow mit „Wavelength“ und „La Region Centrale“ schuf. Bennings Varianten sind nicht so artifiziell, sondern tragen in sich, was Gass an anderer Stelle ein „experimentelles“ Verhältnis zur Wirklichkeit bezeichnet. Er spielt mit dem Zufall, der in seinen ruhigen Landschaftsfilmen, hauptsächlich auf der Tonebene, jene leise „experimentelle“ Irritation dieser Wahrnehmungsexerzitien erzeugt, welche Snow lauthals inszeniert bzw. programmiert. Bei Benning hat diese Funktion der Ton aus dem Off, der Originalton sein kann, aber auch aus anderen Quellen stammt.
Wenn also Bennings Filme weder Experiment noch Avantgarde sind, was sind sie dann? Es sind Experimentalfilme und/oder Avantgardefilme, weil sie sich dank ihrer Eigenständigkeit in den Korpus gleichartiger Filme ergänzend einreihen und die Frage nach avant oder arrière zweitrangig, wenn nicht sogar bedeutungslos wird. Es ist zu bedenken, dass auch bei Kurt Kren nicht alle Filme experimentell oder avantgardistisch sind, sie aber trotzdem so bezeichnet werden, weil sie ihren Platz im Gesamtwerk Krens finden. Ähnliches gilt für Bennings Filme in dem eingangs beschriebenen Sinn, der Avantgardefilm und Experimentalfilm als Generalbegriffe wie ein Generalschlüssel benutzbar macht, aber den Detailgehalt außer Acht lässt.
Damit bleibt aber noch immer die Frage nach der Qualität der Filme und ihrer Bedeutung im Kontext neuer Kunst offen. Die Antwort, soviel steht fest, kommt ohne historische Maßstäbe nicht aus. Damit ist nicht gemeint ein Bezug zu einem starren Kanon von Werken, Begriffen und Namen, sondern eine aus der Geschichte zu lernende Kritikfähigkeit. Kritik- und Geschichtslosigkeit, die, wie Gass beklagt, heute dominieren, hängen zusammen. Gass schreibt: „Das Ausblenden von Filmgeschichte ist ja ohnedies augenfällig im Kunstdiskurs; es ist die Voraussetzung einer bestimmten Wertschöpfungskette und des ihr eigenen Ursprungmythos des Künstlers.“ Den Ursprungsmythos pflegten die Künstler selbst schon immer gerne; er hatte insofern eine Funktion, als das bewusste Sichabsetzen von der Geschichte für einen künstlerischen Neuanfang notwendig oder förderlich sein kann. Der Mythos hält allerdings nur so lange an, bis auch das Neue seinen Platz in der Geschichte gefunden hat.
Mit der Wertschöpfungskette, von der Gass spricht, meint er nicht die Künstler, sondern den Kunstmarkt, der die Deutungshoheit über den künstlerischen Film erlangt habe und mit der Black Box, die heute an allen Ausstellungsorten steht, die Begriffe Experiment und Avantgarde aus jedem Diskurs ausblende. Das geschieht nicht nur deshalb, weil es um Namen und einzelne Positionen geht, die am Markt etabliert werden sollen, sondern weil Videoinstallationen andere Strukturen entwickeln als Experimentalfilme. Als Tableaux vivants stellen sie sich auf die üblichen Zweiminutenbesuche in der Box mit Entzeitlichung ein, so lange sie auch sein mögen8, und verlangen daher einen anderen Diskurs als Experimentalfilme wie die von Warhol oder Benning, die die Erfahrung der Zeit nicht im Vorbeigehen vermitteln können und daher anders zu sehen sind als in einem Ausstellungs-Parcours.
1 Hans Scheugl: Der Film der frühen Jahre. Herbert Vesely und der Neue Deutsche Film. Viennale 2006, Katalog, S. 260.
2 Hans Magnus Enzensberger: Die Aporien der Avantgarde (1962), in: Einzelheiten II, Frankfurt/M 1984; Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Frankfurt/M 1964.
3 Zum Abschluss der Werkausgabe von Heinrich Böll bemerkt ein Zeitungsschreiber (Juli 2010), dass Bölls Literatur „sich nicht in ästhetischen Fingerübungen und Sandkastenspielen erschöpft, sondern dem gesellschaftlichen Leben und ihren (sic!) Gesetzen auf den Grund gehen will.“ Hier wird die Diktion von Enzensbergers Aporien weitergeleiert, ohne dass der Schreiber weiß oder erklärt, dass mit den „Sandkastenspielen“ die experimentelle Literatur etwa der Konkreten Poesie gemeint war.
4 Der Vorwurf an die Kunst, zur konstruktiven Form- und Weltgestaltung unfähig zu sein, wurde schon andere Male erhoben, so etwa in der Blütezeit des Kolonialismus gegenüber dem „weltfremden“ L’art pour l’art der Symbolisten. (Hans Scheugl: Das Absolute. Eine Ideengeschichte der Moderne. Wien/New York 1999, S. 167).
5 Hans Scheugl: Keine Donau. Kurt Kren und seine Filme. DVD, Index 020.
6 Zit. in: Herbert Salzmann: Die geistigen Grundlagen des erweiterten Kunstbegriffs. Innsbruck 1989, S. 105.
7 Um dieser Sprachverwirrung zu begegnen, haben Ernst Schmidt jr. und ich in der „Subgeschichte des Films“ für künstlerisch anspruchsvolle Filme, die fälschlich immer wieder als Avantgarde bezeichnet wurden und werden (Eisenstein, Godard, Resnais usw.), den Begriff Semi-Avantgarde vorgeschlagen. Diese Unterscheidung hat sich leider nicht durchgesetzt.
8 In der Einladung zur Ausstellung des Videokünstlers Wolf Kahlen ist zu lesen: „So flaniert der Besucher gleich zu Beginn der Ausstellung an der Projektion „Kyoto – Raw Material On Sublime Beauty“ vorbei, die überwiegend aus japanischen Straßenszenen besteht und mit ihrer Länge von fast 12 Stunden für den einzelnen Besucher nie fassbar wird.“