I’m Beginning to See the Light

Der Standard 16.6.1995

Das kleine schmale Schlauchkino zu Füßen der leeren Gräber von Schubert und Beethoven im Schubertpark mit dem für Wiener Verhältnisse selten schönen Namen „Iris“ war eines von zahlreichen Kinos in nächster Umgebung, die meine Kindheit und den ganzen 18. Bezirk in den grauen Nachkriegsjahren mit ihren Glanz überstrahlten. Es war nicht das einzige, aber das erste!

Dienstags und freitags rückten die ausgehängten Plakate und Filmfotos von Schaufenster zu Schaufenster in Richtung Eingangstüre weiter, bis dann stand HEUTE und die Glastür sich für die erste Vorstellung um Vier öffnete. Aber kein Glanz ohne Schatten – und der hieß Jugendverbot. Was da nicht alles verboten war! Es blieb aber auch so noch genug, was gesehen werden mußte: Der Dieb von Bagdad (immer wieder), Die Försterchristl (mit Johanna Matz, damals noch Hannerl), Das Kind der Donau und Das Dschungelbuch (mit Sabu!), Der Theodor im Fußballtor und Hamlet (jugendfrei), Tarzan in New York und Höllische Liebe (mit Elfi Mayerhofer), Die gute Erde und Mein Freund Flicka, Lassie komm zurück und und …

Wenn der Billeteur, während die Reklamedias geschaltet wurden und die Wochenschau lief, mit seiner Duftpumpe einen feinen Sprühregen über die Reihen niedergehen ließ, so weniger, um den Geruch der Schweißfüße zu überdecken, sondern um dem Introitus feierlich den abschließenden Segen zu geben.

Das Ritual des Kinobesuchs begann aber schon viel früher mit den Voranzeigen und dem Studium der Programmzettel, die wöchentlich in jeden Stiegenhaus im Bezirk an die Wand geklebt wurden, Schicht auf Schicht, und der Plakattafel mit dem Programm aller Wiener Kinos, die zwischen zwei Wirtshausfenstern in der Gentzgasse hing. Selten reichte das Taschengeld für den Glanz und Glamour von Filmzeitschriften wie Mein Film und Film-Revue, die für meinen filmischen Geschmack maßgebend waren.

Das entschieden aufregendste Kino weit und breit war das Kolosseum-Kino, auch wenn ich mich nicht weiter hineinwagte als bis in den Vorraum, denn es war OFF LIMITS, da nur amerikanischen Soldaten zugänglich. Dort hingen an den Wänden die Originalplakate zu jenen Filmen, die heute auf TNT zurecht billig verramscht werden, damals aber aus den Kino schon ein Stück exterritoriales Amerika machten.

Dazu trug auch der fremdartige Geruch von Popcorn bei, der aus den unsichtbaren Tiefen des Kinos die Treppe heraufströmte. Amisoldaten zogen wie Ariadne ihre Popcorn-Spuren über die Gehsteige, gefolgt von Kindern, die die unbekannten weißen Dinger aufklaubten, ohne freilich den Weg nach Amerika unkenntlich machen zu wollen.

Als dann das Cottage-Kino in der Gentzgasse eröffnet wurde, lief es dem Iris-Kino den Rang ab. Es war groß und modern und hatte unendlich viele Schaufenster, vor denen ich mich auf kommende Genüsse vorbereiten konnte. Drinnen hingen nicht wie im Iris-Kino die Fotos von O.W.Fischer, Marte Harell und Maria Schell an der Wand, sondern die von John Wayne, Gina Lollobrigida und Marlon Brando. Mein Taschenkalender von 1956, dem ein Autogramm von Ella Fitzgerald Ewigkeitswert verleiht, zeigt, daß das Cottage-Kino als Nachspielkino inzwischen erste Adresse für mich war mit Filmen wie Der Weg der Hoffnung (Pietro Germi), Die Schlangengrube, Ein Amerikaner in Paris, Saat der Gewalt, Rashomon, Viva Zapata, und Endstation Sehnsucht. Das Iris-Kino kommt mit Die Ratten nur mehr einmal vor.

Dafür hatte sich mein Kinoradius stark über mehrere Bezirke erweitert. Das Forum-Kino hatte eröffnet und mir 1953 fünf Schillinge für einen Balkonsitz abgenötigt, um nicht wieder heimgehen zu müssen, ohne Rita Hayworth als Salome gesehen zu haben. 1956 folgte Sophia Loren, weit abgeschlagen, als Die Frau vom Fluß. Das Votivpark-Kino war auf Amerikanisches spezialisiert (Jenseits von Eden, Picknick, Der Mann mit dem goldenen Arm), das Gartenbau-Kino zeigte Carmen Jones und Guys and Dolls, das Burg-Kino Altri tempi, das Künstlerhaus-Kino Lockende Tiefe (was immer das war), das Auge Gottes Verdammt in alle Ewigkeit und die Urania La strada.

Zaghaft begann sich die Anschauung durchzusetzen, daß Film nicht nur Unterhaltung, sondern Kunst sein kann. Dem sollte das Studio 1 im Flotten-Kino Rechnung tragen; es war als Artkino konzipiert und versuchte durch eher harmlose Filme wie Marianne (Duvivier) oder Die Wendeltreppe Publikum zu gewinnen. Für mich blieb es das Kino, wo ich 1960 ganz unvorbereitet auf den Namen Michelangelo Antonioni stieß – und zwar durch seinen eindrucksvollen Film Il Grido.

In der Staatlichen Hauptstelle für Bildungsfilm, kurz S.H.B., in der Sensengasse gab es im 1. Stock einen kleinen Filmsaal, wo regelmäßig ältere Filme gezeigt wurden. Dort begegnete ich 1956 erstmals Orphée von Jean Cocteau, dem Kunstheiligen jener Jahre. Stummfilme wie Intolerance wurden von einem alten dünnen Mann auf dem Piano begleitet. Die an die Vorführung anschließende Diskussionen wurden von den Filmkritikern Fritz Walden und Goswin Dörfler geleitet. In einer Zeit, da es in Österreich keine Filmzeitschriften gab und Blätter wie Cahiers du Cinéma, Sight and Sound und Filmkritik noch in weiter Ferne lagen, waren diese Diskussionen für mich willkommener Ersatz für dringend gewünschte Auseinandersetzung. Namen, die heute zur kulturellen Allgemeinbildung gehören, wie etwa Eisenstein, Welles, Kurosawa oder gar von Stroheim, waren nur wenigen Filmenthusiasten in ihrer Bedeutung bekannt. Das Nachholbedürfnis war jedoch allgemein groß und Filmsonderreihen wie die im Audimax an der Universität waren sehr erfolgreich. 1958 wurden dort erstmals Filme von Carl Theodor Dreyer und der Panzerkreuzer Potemkin gezeigt. In der Albertina, damals noch nicht das „Filmmuseum“, sah ich im gleichen Jahr René Clairs Sous les toits de Paris.

Es galt jetzt auch jene Filme nachzuholen, die ich wegen des Jugendverbots versäumt hatte. Die Lady von Shanghai sah ich stilgerecht im Rondell-Kino, das ein Raucherkino war, wo man an kleinen Tischen saß, und das schon lange bevor es ein Pornokino wurde (Deep Throat), ein wenig sündig wirkte. Als Gilda blieb mir Rita Hayworth lange versagt. Laura sah ich gar erst im Fernsehen.

Als dann die Botschaften der Cahiers du Cinéma nach Wien drangen, begann die Nachholjagd nach jenen amerikanischen Filmen von Nicholas Ray, Howard Hawks, John Ford und anderen, die ich den Jahren vorher versäumt, da mißachtet hatte. Auf diese Weise kam ich in kleine, vergammelte Kinos in allen Bezirken Wiens, von denen heute kaum mehr eines besteht.

Die Wende in die sechziger Jahre war, was alte und neue Filme betrifft, eine glückliche Zeit. 1960 brachte Höhepunkte wie Goldrausch, Iwan der Schreckliche, Die Büchse der Pandora, Hiroshima, mon amour, La grande illusion, L’Atalante, Ugetsu Monogatari und 1961 Citizen Kane, Außer Atem, Rom, offene Stadt, High Noon, L’avventura, Rocco und seine Brüder und 8 ½. Höchstes Entzücken? Nicht ganz, denn damit der Kunstfilm heimisch werden konnte, bedurfte es entsprechender Strukturen, und die gab es noch immer nicht. Schon gar nicht für den Experimentalfilm, der nur an Orten gezeigt wurde, wo Filmprojektor und Leinwand erst aufgestellt wurden mußten. Es fehlte in erster Linie spezialisierte und informierte Verleiher. Besonders böse wirkte sich das bei den Godard-Filmen aus, die von irgendwelchen Dutzendware-Verleihern nach Österreich gebracht wurden und mit Vorliebe in Action-Kinos wie das Kärntner-, Haydn- oder Elite-Kino verbraten wurden. Die ohnehin spärlich besuchten Säle leerten sich innerhalb einer halben Stunde fast völlig, und nach einer, höchstens zwei Wochen war der Film weg. Elf Uhr nachts, so der sinnige Titel für Pierrot le fou, war so ein Fall, und Le Mepris genauso.

Ein Aufenthalt in Paris 1964 zeigte mir erst, wie provinziell Wien noch war und wie weit abgeschlagen, angesichts der Wunder der Cinémathèque française, die in mehreren Sälen täglich ihre unerschöpflichen Gaben an ein filmhungriges Publikum austeilte. Nie wieder erlebte ich, daß absolut jeder Film, und sei er noch so schwachsinnig, vom Publikum voller Hingabe aufgenommen wurde. Hier wurde Kino in Maßstäben zelebriert, wie nur in vergangenen Tagen im Iris-Kino.

In Wien eröffnete das „Filmmuseum“ und gab dem Film für ein kunstinteressiertes Publikum endlich die höheren Weihen der Kunst. Wie es mit den Kinos weiterging, ist hinlänglich bekannt: das Publikum wurde weniger und die Zahl der Kinos gleichermaßen. Trotzdem endete alles ziemlich happy – wirklich happy allerdings nur so lange, als es nicht endet.

Mein liebstes Schlauchkino ist jetzt das Admiral in der Burggasse, wo schöne Filme wie Vacas, die kein breites Publikum fanden, mit liebevoller Beharrlichkeit über Wochen im Programm gehalten werden und ein heiserer, freundlicher Glatzkopf Karten- und Zuckerlverkäufer, Billeteur und Vorführer in einem ist. Waren das noch Zeiten im Iris-Kino, als es eine Kartenverkäuferin, eine Zuckerlfrau und einen Billeteur gab und der Vorführer unsichtbar bleib, wie es sich für eine Zaubermaschine gehört. Duftpumpen wären heute allerdings nicht mehr der rechte Erfolg.

HansScheugl-1995-I’m Beginning to See the Light