Gewalt und Utopie

Notizen zu einem Vortrag mit Filmbeispielen,
gehalten am 16.3.2003 im Votiv-Kino
auf Einladung des Institut Petanga.

Der Krieg ist eine ernste Sache, ich wünschte, wir könnten jedes Blutvergießen vermeiden.“ (Pier Paolo Pasolini als mexikanischer Priester in Requiescant, 1967)

Mehr Napalm auf Vietnam.“ (Oswald Wiener, 1967)

Folgende Filme wurden im Verlaufe des Vortrages ganz oder in Ausschnitten gezeigt:
Mögen sie in Frieden ruhen (Requiescant} 1967. Regie: Carlo Lizzani. Mit Lou Castel.
Von Angesicht zu Angesicht (Faccia a Faccia) 1967. Regie: Sergio Sollima. Mit Gian Maria Volonté u. Tomas Milian.
Leichen pflastern seinen Weg (Il Grande Silenzio) 1968. Regie: Sergio Corbucci. Mit Jean-Louis Trintignant und Klaus Kinski.
Töte Django (Gringo uccidi) 1966. Regie: Giulio Questi. Mit Tomas Milian.
Einszweidrei (1965-68), Ernst Schmidts tachistische Materialschlacht, die er Corbucci, Questi und Tessari, drei Regisseuren des Italo-Western, widmete.

Gewalt wurde in der Kunst der 60er Jahre als Hebel verwendet, bestehende Strukturen aufzubrechen. Die ästhetischen und gesellschaftliche Tabus verletzenden Provokationen des Wiener Undergrounds zielten auf die Sichtbarmachung der institutionellen Gewalt herrschender Systeme. Im Italo-Western betrafen Reflexion und Affirmation der Gewalt vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges und der Machenschaften der CIA in Südamerika gleichermaßen den Kampf um materielle und geistige Besitzstände.
Der Ort des Italo-Western ist nackt, nämlich aller kulturellen und moralischen Errungenschaften der Menschheit entblößt. Es herrscht Kapitalismus pur. Macht üben jene aus, die Besitz haben und sich eine private Armee leisten können, um ihn zu sichern und zu vermehren. Deshalb geht es in allen Western um Geld und Waffen.
Der zum Revolutionär gewordene Bandit Paco in Il mercenario (1968) bezeichnet die Besitzer der Silberminen als “Kapitalisten“. Er erklärt die Anatomie der Gesellschaft so: die Reichen (der Kopf) und die Armen (der Hintern) kommen nie zusammen, weil der Rücken dazwischen ist: die bürgerliche Mittelschicht, die ihre Privilegien wahrt und ebenso skrupellos und rassistisch ist wie die Großgrundbesitzer. Der Sheriff wird von den Bürgern gewählt und bezahlt und ist daher machtlos.
Neben den sesshaften Kapitalisten gibt es noch Freibeuter und Markthaie, die häufig Amerikaner/Gringos sind: Es sind Kopfgeldjäger und Agenten großer Gesellschaften, die feste Preise haben und ebenso ruchlos sind wie die eingesessenen Kapitalisten. Als Söldner arbeiten sie für jeden, der sie bezahlt, in Il mercenario auch für die Revolutionäre, Geschäft ist Geschäft. Il Loco (Klaus Kinski), der zynische Kopfgeldjäger in Il Grande Silenzio, kann sich auf das Gesetz berufen, wenn er Menschen wie Tiere abknallt.

Der Machtelite ausgeliefert ist die Masse der Besitzlosen, die kein Heim und keine Rechte haben (Requiescant) und als Ausgestoßene in den Bergen leben müssen (Il Grande Silenzio). Ihrer Hilflosigkeit entkommen sie erst, als ein Fremder auftaucht, der mit der Waffe umzugehen weiß und widerstrebend die Rolle des Anführers annimmt. In seine soziale Rolle muss der Kämpfer in eigener Sache erst hineinwachsen, denn zuerst dominieren Eigeninteressen. Ihm selbst wurde schon als Kind Unrecht zugefügt, Silent (Trintignant) in Il Grande Silenzio wurden die Stimmbänder durchgeschnitten.

Django ist die stilbildende Verkörperung des Einzelkämpfers. Zu Beginn des Films taucht er mit dem Sarg, den er durch den Schlamm zieht, langsam wie ein heimkehrender Soldat aus einer dunklen Vergangenheit auf. In dem Sarg befindet sich ein Maschinengewehr, das zum Einsatz kommt, wenn die Machthaber im Ort ihre Ordnung bedroht sehen und zur Gewalt greifen. Das Städtchen wird zum Ort der moralischen Bewährung und Reinigung. In Faccia a faccia heißt es Purgatory City. (In den USA tragen viele Orte/Straßen diesen Namen.) Die einzigen aufrechten Menschen dort sind die Huren. Sie bilden ein subversives Element, das sich dem Fremden, der gegen die herrschende Übermacht antritt, anschließt und ihn unterstützt.
Seine Leiden geben ihm eine spirituelle Macht. Am Anfang von Gringo uccidi wird der Fremde für tot gehalten; aber er steht von den Toten auf, denn die Erinnerung an das erlittene Unrecht treibt ihn ins Leben zurück. Leiden legitimiert die Revolution. Silent wird zum Erlöser, der christusartige Züge trägt. Es kommt in den Filmen immer wieder das Motiv des Kreuzes vor, an das die Unschuldigen geschlagen oder gebunden werden. Die christliche Verdeutlichung von Leiden und Auferstehung ist an einzelne Gestalten gebunden, nicht jedoch an die Kirche selbst. In Per qualche dollaro in piu (Für ein Paar Dollar mehr, 1965) lässt Sergio Leone eine Versammlung von Bösewichten in einer Kirche stattfinden und ihre Botschaft von der Kanzel aus verkünden.

GringoUccidi    Gringo uccidi

IlGrandeSilenzio   Il Grande Silenzio

Der Held erscheint auch als der reine Tor, wie in Carlo Lizzanis Requiescant. Die neue Ordnung, die er begründet, steht unter der moralischen Führung eines Priesters, den Pier Paolo Pasolini spielt, und der die Symbiose zwischen Marxismus und Christentum vollzieht. Ausnahmsweise einen Heiligen, El Santo, verkörpert Klaus Kinski in Quien sabe? (Töte Amigo, 1966). Er versucht seinen tumben Bruder (Volonté), der sich korrumpieren lässt, zu bekehren.
Neben den Heiligen (in Mercenario gibt es auch 12 Apostel) und Narren tritt in Faccia a Faccia als möglicher Retter ein Intellektueller auf, der Lehrer Fletcher (Volonté), den allerdings die Gewalt fasziniert und die Macht, die ihm zufällt, korrumpiert und zum Faschisten werden lässt, der in einem Dorf von Anarchisten eine Zwangsordnung errichtet. Angesichts dessen wird ein Desperado (Milian), dem er sich angeschlossen und dessen Brutalität ihn anfangs erschreckt hatte, geläutert.
Während die Rollen der Guten und Bösen und deren politische Implikationen im Italo-Western nach dem Schnittmuster eines Volksstückes klar verteilt sind, erzeugt die Darstellung der Gewalt eine Ambivalenz, die beide Seiten verbindet. Angesichts der Faszination, die sie im Kino ausübt, stellt sich die Frage, ob sie den Verlust von Freiheit und Leben bedeutet oder einen Shortcut zum Recht, und wie weit ihre Verführungskraft, angereichert mit dem Mythos der Männlichkeit, reicht. In vielen Fällen ist die Gewalt im Italo-Western nur Pulp Fiction, zu seiner Rehabilitation kann aber gesagt werden, dass er immer wieder auch deren Konsequenzen zu Ende denkt, ohne sie zu relativieren. So etwa, wenn in Il Grande Silenzio am Ende die totale Hoffnungslosigkeit herrscht, da alle sterben müssen, auch Silent, der Held, und der böse Il Loco (Kinski) sein mörderisches Geschäft kaltblütig zu Ende bringt.

Was 1968 strukturelle Gewalt genannt wurde, die Macht des Staates und des Kapitals, legitimierte im damaligen Verständnis den Widerstand durch Gewalt, sei es politisch auf der Straße oder künstlerisch im Underground.

Django schoss zurück. Im Kunstraum war sein naheliegendes Ziel der Bürger, die Verkörperung des Opportunisten, Mitläufers und Verwalters des Status quo, d.h. des Staates. Oswald Wiener nannte ihn Wichtel. Ihm galt die ganze Verachtung. Er wurde buchstäblich in verschiedenen Aktionen der Aktionisten und Filmer davongejagt mit Raketen, Tränengas, Schwefel und Peitschenschlägen (Exit, Underground Explosion, Kunst und Revolution). Brus nannte die Vietnam-Party von 1966 „ein ganz schönes Kriegsführen“, die Aktion ZOCK versprach im gleichen Jahr die „totalrevolution“.

Peter Weibel und Valie Export machten bei Underground Explosion (1969) mittels Wasserwerfer und Stacheldrahtrollen klar: „W.I.R. sind W.A.R.“ In dem Programmheft zu ihrem „kunstkrieg“ schrieb Weibel: „kunst, die als ort der utopie überleben will, für die ankunft der utopie sorge und schlagring tragen will, kunst, die fürs überleben sorgt, wird zu paramilitärischen aktionen. durch das gepanzerte territorium der ‚ordnung’ zieht sie die vandalenspur der freiheit.“

Der Kunstraum, ebenso schäbig (da Underground) wie Purgatory City, wird zum Ort der Reinigung. Der Bürger, der ihn in Erwartung von Kunst betritt, geht in die Falle. Die Utopie der Freiheit soll auch ihn erfassen und zum Komplizen der Gewalt machen. Auf einem Programmblatt zu einer Aufführung seiner Filme schrieb Mühl 1967 über die „kommende Machtergreifung“ der Kunst: „als idol der gewalt läßt MUEHL die massen toben“. In dieser Anspielung auf Hitler rekurrierte Mühl nicht auf die Position des Künstlers und seiner Kunst, die von einer „Machtergreifung“ des „Idols“ weit entfernt war, als vielmehr auf die Anhängerschaft, die zwar wuchs, wenn auch nur in Maßen, mit deren Willfährigkeit aber zu rechnen war.

Die Selbstermächtigung, die Django in einer diffusen Vergangenheit durch Leiden und erworbene Kampfeskunst erreicht hat, muss der Künstler vor aller Augen in Szene setzen. Gleich einem Schamanen erduldet er Schmerz (Brus’ Selbstverstümmelung) und Selbsterniedrigung (das „Scheißefressen“, der ultimative Härtetest für Brus, Mühl, Kurt Kren, O. Bauer und O. Wiener) und gewinnt durch die Überwindung von Ekel, Scham, Mitleid und Angst Macht über das Menschliche in sich und das Wichtelhafte der anderen. Weibels Aus der Mappe der Hundigkeit war im Vergleich dazu leichte Kost.

Die Inszenierung des Schmerzensmannes als Erlöser und Schamane ist eine symbolische. Ikonografische Bedeutsamkeit hat jenes Foto von Joseph Beuys erlangt, das ihn bei einer Veranstaltung zeigt, bei der er von einem Studenten am Kopf verletzt wurde und er ein Kreuz in die Höhe hält, während ihm das Blut übers Gesicht rinnt.

Nach „Kunst und Revolution“ erfolgte  ein zunächst von Wiener (die verbesserung von mitteleuropa, 1969) vorgegebenes Ausweichen in einen utopischen, nämlich behavioristischen Umbau des Menschen, der (auch bei Weibel und Export) stark sadistische Züge hatte – Ausdruck eines nicht erfüllten, aber nach wie vor gestellten Machtanspruchs.

Oswald Wiener 1982 in nötiger Distanz zu seinen Machtfantasien der sechziger Jahre, gleich einem doch noch zur Einsicht gekommenen Fletcher in Faccia a Faccia: „Damals habe ich allerdings wirklich geglaubt, dass ein einzelnes Individuum eben sozusagen individueller sein könne als andere Menschen. Dass es auf die Rolle des einzelnen in einem historischen Prozess ankommt, vor allem auf die Erkenntniskraft des einzelnen, in zweiter Linie auch auf seine Fähigkeit zu handeln.“ [Zit. in Scheugl: „Erweitertes Kino“, S. 178]. Individueller meinte übermenschlicher. Handeln meinte Revolution bis hin zum Terrorismus. In jedem Fall Gewalt.