Synchron 2004
In den hermetischen Filmwelten, die Tarantino 1994 mit Pulp Fiction zu konstruieren begann und nun mit Kill Bill zu einem vorläufigen Höhepunkt bringt, herrscht eine Gewalt vor, die einen Realitätsbezug ausdrücklich leugnet. Verbinden lässt sich ihre Herkunft mit anderen Filmen, aber nicht mit der Welt außerhalb des Kinos. Vorbilder sind Tarantino Animationsfilme wie Bugs Bunny, in denen schon in den 50er Jahren lustige Gewaltorgien abliefen, die Schwertkampffilme aus Hongkong und – ungenannt – die Computerspiele mit ihren ständig motivierten Killermaschinen.
Ein Thema, das Anfang der 90er Jahre in Hollywood eine Rolle zu spielen begann – die Verbindung von Gewalt und Religion – taucht auch in Pulp Fiction in Gestalt eines Gangsters auf, der ständig die Bibel zitiert. Er stellt die groteske Variation jener Figur dar, die Robert De Niro zuvor in Martin Scorseses Cape Fear spielte, einen entlassenen Strafgefangenen, der seinen Rachefeldzug unter dem Banner der Bibel führt und als strafende Macht sich Gott gleich fühlt.
Seine schillernde Figur ist Träger einer Art negativen Mystik, wie sie schon Marlon Brando als Colonel Kurtz in Apocalypse Now verkörperte. In Coppolas Film wird deutlich, dass die Aufhebung und Umkehrung der Werte ein Resultat des Krieges ist. Damals des Krieges in Vietnam.
Sean Penn spielte voriges Jahr in Mystic River den Vater eines ermordeten Mädchens, der zwar wie De Niro in Cape Fear ein großes Kreuz auf seinem Rücken tätowiert hat und ebenfalls von dem Wunsch nach Rache angetrieben ist, aber ganz ohne die im Titel angesprochenen Mystik auf menschliches Verständnis stößt.
Der Rachegedanke, der atavistisch aus tief religiösen Glaubensmotiven gespeist ist, läuft darauf hinaus, dass die erlittene Gewalt nur durch den Tod des Schuldigen aufzuheben ist. Erst seine Auslöschung verspricht, dass sich der vorherige Zustand der Unverletztheit wieder einstellt. Die in den 70er Jahren in Filmen wie Taxi Driver und zuletzt in Cape Fear noch problematisierte Privatisierung des Rechts, erhält jetzt den stillen Segen der verletzten Gemeinschaft, die wieder heil zu werden vermeint, wenn einer das Böse auslöscht, indem er es auf sich nimmt.
Ist es das Gesetz selbst, das Gewalt über das Böse erlangt, obliegt ihm der Vollzug der Rache. Man begegnet auch in unseren Fernsehkanälen den amerikanischen Männern und Frauen, die anlässlich spektakulärer Verbrechen vor der Kamera mit düsterer Miene erklären, sie würden erst Ruhe finden, wenn der Mörder eines ihrer Anverwandten exekutiert wird und sie selbst dabei Zeuge sind. Zu hören waren solche stereotyp vorgetragenen Wünsche nach Rache etwa, nachdem die beiden Heckenschützen von Washington gefasst waren. Die Erleichterung über ihre Ergreifung war eine doppelte: das Unfassbare bekam ein Gesicht und konnte durch den Tod ausgelöscht werden.
Das Böse, das in der Politik in eigene Reiche verwiesen und durch Krieg bekämpft wird, hat auch auf einer individuellen Ebene vom Erdboden zu verschwinden. Der Abgrund, als der das Böse erscheint, wird nicht überschritten, geschweige denn durchquert, sondern zugeschüttet wie ein Grab.
Tarantino macht Filme, von deren Gewalt er meint, sie hätte nicht das Geringste mit der Gewalt der realen Welt zu tun. Sie ist ihm ein innerfilmischer Bestandteil, bei dem sich die Frage nach gut und schlecht nur in ästhetischen Kategorien stellt. Entsprechend beliebig ist der Grund für Uma Thurmans Rachefeldzug in Kill Bill, auch wenn Tarantino das stärkste Motiv auswählt, das im amerikanischen Kino zu finden ist, nämlich die Zerstörung der Familie und – im weiteren Sinne – der Gemeinschaft.
Trotzdem ist das Motiv nur Vorwand für eine in Szene gesetzte Gewalt ohne Realitätswert. Ihr Unterhaltungswert besteht darin, dass sie sich in einer Aneinanderreihung ejakulativer Höhepunkte wie Pornografie ständig selbst zu überbieten trachtet.
Angesichts der Diskussion, die die Gewalt in Mel Gibsons Passionsfilm auslöste, stellt sich die Frage, warum Kill Bill mit seinen abgeschlagenen Köpfen, Blutfontänen und zuckenden Torsi von den Kritikern völlig problemlos als Genrefilm akzeptiert wird. Wird Gewalt in ihrer ethischen Dimension erst wahrgenommen, wenn sie sich, wie in dem Christusfilm, mit einer Botschaft verbindet – nämlich der, dass die von den Juden verursachten Leiden des Gekreuzigten nach Rache schreien? Könnte sich die blutige Kunstfertigkeit von Kill Bill, die nur für sich zu stehen scheint, nicht leicht mit einem Inhalt füllen, und sei es nur der, dass Gewalt Spaß macht?