Filmarchiv Austria, Mitteilungen 37 / 2006
Katalog zur Viennale 2006
Die Rückgewinnung der Wirklichkeit 1955 – 1977
Diese Filmschau lässt sich als eine Fortsetzung zweier anderer Retrospektiven über den „Neuen deutschen Film“ sehen, die – ebenfalls im Rahmen der Viennale – 1990 und 1997 stattfanden. Sie trugen die symbolhaften Titel zweier bekannter Filme: Abschied von gestern und Nicht versöhnt. „Der Film der frühen Jahre“ ist die Abwandlung eines Filmtitels, der in den anderen beiden Schauen nicht vorkam. Eine dritte Sichtung dieser Epoche des deutschen Films ist insofern gerechtfertigt, als die Sichtweise von Mal zu Mal anders, ich möchte sagen, genauer wird. Ziel dieser Schau ist es daher auch nicht, einen großen Überblick zu geben, sondern anhand einer relativ kleinen Anzahl vom Filmen bestimmte Herangehensweisen zu vertiefen.
Die erste Schau setzte den Zeitrahmen von 1965 bis 1982, die zweite von 1964 bis 1976. Wenn diesmal schon früher angesetzt wird, ergibt sich das daraus, dass der schwierige Prozess der formalen und inhaltlichen Wirklichkeitsbestimmung im deutschen Spielfilm, der hier thematisiert werden soll, andere Schwerpunkte setzt. Herbert Veselys Das Brot der frühen Jahre von 1961/62 fehlte in den früheren Retrospektiven, obwohl der Film als der Beginn der Neuen deutschen Welle der sechziger Jahre gilt. Der Grund ist vermutlich der, dass der Film seinen Ruf als film maudit (ins Deutsch der Bundesrepublik übersetzt: ein schlechtgeredeter Film) nie loswurde. Um es gleich vorwegzunehmen: eine Revision lässt ihn als einen der interessantesten deutschen Filme überhaupt erscheinen. Deshalb soll im Folgenden Veselys zwischenzeitlich vernachlässigte Position im Film der frühen Jahre in einem verstärkten Maße umrissen werden, wie es ihm sonst, in Relation zu allen anderen Regisseuren und Autoren dieser Retro, nicht zukäme.
Der neue deutsche Film war in seinen Anfängen in seinem Bemühen, neue Ausdrucksformen zu gewinnen, in verschiedene Richtungen offen und zu Experimenten bereit, um der deutschen Gegenwart anders zu begegnen als das etablierte Kino. Außenseiterproduktionen wie Jonas, Die Parallelstraße, Das Brot der frühen Jahre und die Filme von Jean-Marie Straub und Vlado Kristl gingen künstlerische Risiken ein, die – selbst im Falle ihres Scheiterns – für die Entwicklung des deutschen Spielfilms, für den in dieser Auswahl die Namen Schamoni, Herzog, Wenders und Fassbinder stehen, von großer Bedeutung waren. Auch wenn diese Entwicklungen in unterschiedlichen Bahnen verliefen, bestehen zwischen ihnen doch Verbindungslinien, die es im Folgenden aufzuspüren gilt. Dass die Vorreiter einer künstlerischen Veränderung bei der Tageskritik einen schweren Stand hatten, schlägt bis heute durch. Die Rezeption der Filme soll nicht unerwähnt bleiben, denn sie sagt ebensoviel über die Zeit aus wie díe Filme selbst. Den narrativen, am Spielfilm orientierten Experimenten in Deutschland standen zu ihrer Zeit auf der einen Seite ein höchst konservatives Kino und auf der anderen eine internationale Avantgardebewegung gegenüber, die mit ihren formalen Neuerungen weit vorne lag. In den sechziger Jahren blieb in Österreich, wo Veselys künstlerische Wurzeln lagen, eine Entwicklung des Kinofilms wie in Deutschland aus, was in Konsequenz zu immer radikaleren Entwicklungen im experimentellen Bereich führte. Welche Querverbindungen sich zu den deutschen Filmen ergeben und welche Korrelationen filmsprachlich zueinander bestehen, wird ebenfalls zu beobachten sein.
Warten auf den Anfang
Als Joe Hembus 1961 das Pamphlet Der deutsche Film kann gar nicht besser sein in Buchform veröffentlichte, war die Krise des deutschen Films akut. Hembus sah in ihm einen Krankheitsfall und stellte folgende pessimistische Diagnose:
„Er ist schlecht. Es geht ihm schlecht. Er macht uns schlecht. Er wird schlecht behandelt. Er will auch weiterhin schlecht bleiben.“ 1
Die Regisseure und Autoren der Nachkriegszeit hatten in den restaurativen fünfziger Jahren die Hoffnungen, die sie ursprünglich geweckt hatten, nicht erfüllt oder in der Zwischenzeit verspielt, während in den anderen europäischen Ländern Filme von Weltgeltung entstanden. Es genügt ein Name, Roberto Rossellini, um den Abstand deutlich zu machen. Hembus listet folgende deutsche Filme auf, die von 1951 bis 1960 den Bundesfilmpreis bekamen und als repräsentativ angesehen werden können:
Das doppelte Lottchen, Die Schuld des Dr. Homma, Nachts auf den Straßen, Vergiß die Liebe nicht, Weg ohne Umkehr, Canaris, Himmel ohne Sterne, Teufel in Seide, Alibi, Ich denke oft an Piroschka, Der Hauptmann von Köpenick, Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, Stresemann, Nachts wenn der Teufel kam, Helden, Hunde wollt ihr ewig leben, Wir Wunderkinder, Die Brücke, Rosen für den Staatsanwalt.
Im Inhaltsverzeichnis von Hembus’ Buch finden sich diese Kapitelüberschriften:
„Die größten Regisseure Deutschlands: Helmut Käutner oder: Der Krieg wird immer lustiger – Kurt Hoffmann oder: Nazi-Spuk für Spießer – Wolfgang Staudte oder: Nazi-Spuk für Intellektuelle – Rolf Thiele oder: Frühlingsmotive im Herbst.“
Was die Unzufriedenheit zu diesem Zeitpunkt so anheizte, war der Umstand, dass in Frankreich wie in Großbritannien einer neuen Generation von Filmmachern eine Erneuerung des Spielfilms ihrer Länder gelang, in Deutschland Vergleichbares aber nicht in Sicht war. Die deutsche Filmwirtschaft steckte insgesamt in einer schweren Krise, sodass ein Vakuum entstand, das die Erwartung eines Neuanfangs verstärkte. Dazu kam, dass eine junge Generation von Filmkritikern, die sich in München um die von Enno Patalas gegründete Zeitschrift „Filmkritik“ sammelte, mit einem zu dieser Zeit noch raren filmhistorischen Wissen Vergleiche anstellte und neue Maßstäbe setzte.
Im Februar 1962 veröffentlichten 26 junge Filmschaffende bei den Kurzfilmtagen in Oberhausen ein Manifest, das mit den Sätzen begann „Der Zusammenbruch des konventionellen deutschen Films entzieht einer von uns abgelehnten Geisteshaltung endlich den wirtschaftlichen Boden. Dadurch hat der neue Film die Chance, lebendig zu werden.“, und endete mit: „Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen.“ Unterzeichnet wurde das Manifest u.a. von den Produzenten Rob Houwer, Hansjürgen Pohland, Peter Schamoni, den Regisseuren Ferdinand Khittl, Alexander Kluge, Edgar Reitz, Haro Senft, Herbert Vesely, den Kameramännern Ronald Martini, Wolf Wirth und dem Schauspieler Christian Doermer.
Der Spielfilm, der kurz nach Oberhausen in Cannes Premiere hatte (und für den vier der Unterzeichner verantwortlich waren), war Veselys Das Brot der frühen Jahre, entstanden nach der gleichnamigen Erzählung von Heinrich Böll. Die ohnehin schon großen Erwartungen wurden durch die Einladung nach Cannes noch gesteigert. Der Film wurde ein Misserfolg, was als doppelter Schaden angesehen wurde, denn nun würden die alten, totgesagten Routiniers wieder einen Auftrieb verspüren.2 Für den jungen Vesely – er war zu diesem Zeitpunkt gerade 31 Jahre alt – bedeutete er einen nachhaltigen Bruch in seiner Karriere. Dabei waren Misserfolge für Vesely nichts neues, sie hatten allerdings seinen früheren kurzen Filmen als Bestätigung ihrer Vorreiterrolle gedient, fanden sich doch immer gleich viele Stimmen, die ihren Wert bestätigten. Das mochte angehen, solange sich die Diskussion in kleinen cineastischen Zirkeln abspielte, als aber das Prestige des deutschen Films auf dem Spiel stand, war die Reaktion gnadenlos, sogar seine einstigen Sympathisanten bei der „Filmkritik“ ließen ihn fallen. Das ist umso auffälliger, als die Reaktion in Frankreich weit weniger heftig ausfiel, obwohl die Kritiken von Missverständnissen geprägt waren, da Veselys frühe Filme dort weitgehend unbekannt waren.
Die Rückgewinnung der Form
„Jene atemberaubende Schönheit, die in der äußersten Strenge der gebundenen Form liegt und die etwas von Terror an sich hat.“
Herbert Vesely
Herbert Vesely wurde 1931 in Wien geboren und starb 2002 in München, wo er den größten Teil seines Lebens zuhause war. Für das Verständnis seiner frühen Arbeiten, von denen die ersten beiden in Österreich entstanden, ist maßgebend sein Verhältnis zur Musik, das von seiner Zusammenarbeit mit dem Literaten und Musiker Gerhard Rühm beeinflusst war. Rühm knüpfte an Anton Webers Definition der Musik als Zeitstruktur und die von Josef Matthias Hauer begründete Zwölftonmusik an. Das Verständnis von der Musik als Konstrukt und Kalkül ließ sich auch, wie Rühms Arbeiten zeigen, auf die Literatur übertragen. Vesely übernahm diesen strukturellen Ansatz und wandte ihn intuitiv zunehmend in seinen Filmen an. Sein Ausgangsmaterial war stets ein literarisches. Inhalte im herkömmlichen Sinn traten in den Hintergrund und lösten sich in Stimmungen von Angst, Bedrohung und Schicksalhaftigkeit auf, die die künstlerischen Arbeiten der fünfziger Jahre in Österreich im experimentellen Film wie in der Lyrik durchzogen.3
Veselys erster Film, von dem keine Kopie, aber das Drehbuch erhalten ist, und für den Rühm die Musik herstellte, war Und die Kinder spielen so gern Soldaten (1951), eine sehr freie, minimalistische Version von Kafkas Erzählung In der Strafkolonie, die wie in einer Endlosschleife den Tod eines Soldaten paraphrasiert. Auch bei An diesen Abenden (1952) ist nicht die Geschichte von Bedeutung – sie geht zurück auf ein Gedicht von Georg Trakl und erzählt von einer Magd, die sich von einem Knecht verführen lässt und deshalb von der Dorfgemeinschaft ausgestoßen wird – sondern die formale Überhöhung. Der Film ist ganz von Musik und Geräuschen durchzogen und bestimmt. Der Gesang eines mittelalterlichen Totenliedes, Rühms verfremdetes Spiel einer Viola und die Dorfgeräusche erzeugen eine gespenstische, drückende Stimmung. Bildmotive wie die Sensenmänner und die Schatten an der Wand erinnern an Carl Theodor Dreyers Vampyr. Surreale Momente, die Atmosphäre eines Traums und die Verwendung von Großaufnahmen, etwa wenn sich das Gesicht der Magd auf der Blickachse vor die Kamera schiebt, und das stumme Schauen erinnern an Maya Deren. Was Vesely ebenfalls auf gewisse Weise mit Deren verbindet, ist die Tatsache, dass in diesem wie in anderen seiner Filme eine Frau im Mittelpunkt steht. In An diesen Abenden gibt es, wie in seinem ersten Film, das zwingende Motiv der Repetition. Ein Knecht, der auf einem Karren sitzt, verliert seinen Holzpantoffel, springt vom Wagen und holt ihn. Dieser Vorgang wird mehrmals gleich und dann in einer Totale wiederholt.
1955 stellte Vesely seinen im Jahr davor gedrehten Film nicht mehr fliehen fertig. Im gleichen Jahr entstand Mosaik im Vertrauen von Peter Kubelka und Ferry Radax. Beide Filme beziehen ihre Wirkung aus ihrem strukturellen Aufbau. Bei Vesely kommen dazu ein sich Camus verdankender Existenzialismus und der Einfluss von Jean Cocteaus Orphée (1950), das prominenteste Werk des Surrealismus der Nachkriegszeit. Wie Cocteau war Vesely bestrebt, besonders durch die Wahl der Schauplätze – der Film wurde in einer wüstenähnlichen Gegend in Spanien gedreht – „dem Ungefähren einen Realismus“4 zu geben.
Vesely schrieb über die an ein Musikstück erinnernde Themensetzung folgendes:
„Die Handlung erzählen zu wollen, ist sinnlos. Die Handlung existiert nicht. Der Film analysiert eine Situation, die „nicht mehr fliehen“ heißt. Durchleuchtung anhand des filmischen Mikroskops. Statische Reihung von Zuständen statt des erzählenden Bandes. Es ist die Situation von Fliehenden, die einmal ans Ende ihrer Flucht kommen, oder eine Kraft, die plötzlich nutzlos ist. Die Stationen, die sie in dieser psycho-physischen Endsituation durchlaufen, habe ich nach ihrer „Ankunft“ bezeichnet als:
„Schweigen nach der Ankunft“ „Gleichgültigkeit der Umgebung“ „Feindseligkeit der Umgebung“ „Ausbruch des Hasses“ „Suche nach einem Zimmer“ „Erste Begegnung mit Eingeborenen“ „Einzug in das Zimmer“ „Fraternisation mit Eingeborenen“ „Überwältigendes Bewusstwerden ihrer eigenen Fremdheit“ „Nutzlosigkeit jeder Bemühung weiterzufliehen“ „Endliche Akzeption dieses Absurden“ „Auflehnung dagegen“ „Befreiung in der Tat“ „Zurückbleibendes“
Ich habe im Prinzip die intellektuelle Betrachtungsweise der Analyse beibehalten.
GOTTFRIED BENN: ‚Intellektualismus ist die kalte Betrachtung der Erde, warm ist sie lange genug betrachtet worden, mit Idyllen und Naivitäten und ergebnislos.’
Als ich die Idee hatte, war ich von dreierlei beeindruckt bzw. beeinflusst: die Wüste, ein Gesicht und die Struktur der Fuge. ‚fuga’ – die Flucht – schwebte mir als Titel vor. (…) Die Form der Fuge baut sich auf den Möglichkeiten, die ein einzelnes Ding, wenn es stark und beherrschend genug ist, tun kann oder sein kann. Die Einheit der Fuge ist wie ein Entfalten von etwas Innewohnendem, wo die verschiedenen Linien nur die Stränge sind, die die Stärke eines dominanten Wesens ausmachen. In einer großen Fuge fühlt man, dass nichts den Fortlauf aufhalten kann. (…) Die Flucht führt die Fliehenden zu einem Ende, wo kein Weg weiterführt. Hier müssen sie bleiben, sie sind gezwungen zu bleiben: es führt kein Weg zurück. Die Kraft tritt in Form von Fliehenden (die blindeste und intensivste Kraft: der Wille zu entkommen) in die Struktur der Handlung ein, die Flucht ist unvermittelt gestoppt und zu Ende …“5
Zum Einsatz der Dialoge und zur optischen Gliederung der Themenblöcke schrieb Enno Patalas für das Presseheft zum Film folgendes:
„Der Dialog ist sparsam, archaisierend, weitgehend aus den normalen Sinnzusammenhängen gelöst, in ‚Geräusch’ oder ‚Musik’ verwandelt. Er hat nicht handlungsdeterminierende oder handlungsbestimmende Funktion, sondern ist der Musik koordinierter gesprochener Stimmungsausdruck. Dadurch rechtfertigen sich die Wiederholungen mancher Sätze, die Verwendung mehrerer Sprachen.“
„Die Phasen, die die Situation der Geflüchteten durchläuft, finden im Optischen ihre Entsprechungen: rasende Kamerafahrt, schütternd vorwärtsstoßend, wenn Gerard [der männliche Protagonist] in den Ort eindringt; suchendes Kreisen, vage, unbestimmt, wenn sie sich im Ort umsehen; ruckweise durch Stehkader unterbrochener Lauf Gerards und Teleobjektiv-Aufnahmen vor der Vergewaltigung; kreisförmiges Schaukeln der Kamera vor dem Leichnam des Mädchens Ines.
Optische und akustische Reminiszenzen an frühere Vorgänge wiederholen sich, wenn in der gleichsam spiralförmig sich entwickelnden Situation ähnliche Stationen wiederkehren; das Thema wird umspielt, aufgegeben, neu angeschlagen, abgewandelt und wiederholt. Häufig variierte Themen sind der Lastwagen, der Turm mit der Punkt-Null-Marke und ein Leuchtturm mit blinden Fensterhöhlen.“6
Mosaik im Vertrauen von Kubelka und Radax und nicht mehr fliehen von Vesely waren trotz ihrer formalen Gestaltung Filme, die zum Spielfilm tendierten. Kubelka, der sich wie Rühm mit Webern beschäftigte, ging diesen Weg nicht weiter, radikalisierte vielmehr seinen strukturellen Ansatz. Radax fand in Konrad Bayer einen ähnlichen Impulsgeber zu einer Formalisierung wie Vesely in Rühm und drehte mit ihm zusammen Sonne halt! (1960/62) und Am Rand (1963). Nach ihrer Trennung von Rühm bzw. Bayer ließen diese Impulse sukzessive nach.
Vesely, der für nicht mehr fliehen einen deutschen Produzenten gefunden hatte, blieb in Deutschland und beteiligte sich an dem wenig gelungenen Episodenfilm Maya (1956), für den er eine Ballettpause in filmische Bewegung versetzte. Ein Betätigungsgebiet (und einen finanziellen Rückhalt) fand Vesely beim Fernsehen. So konnte er die Episode aus Maya im gleichen Jahr als Ballettbewegungen neu drehen. Das neue Medium förderte eine Versachlichung durch einen verstärkten Dokumentarismus. Diese filmischen Essays konnte Vesely zu Kurzfilmen umarbeiten und unter einem neuen Titel als Vorfilm ins Kino bringen. So wurde etwa aus dem TV-Film Menschen in der Stadt (1959) in der verlängerten Kinofassung Die Stadt (1960). Für Vesely bedeuteten diese Arbeiten in Hinblick auf den nachfolgenden Spielfilm Das Brot der frühen Jahre keinen Nachteil, im Gegenteil. Das wird umso deutlicher durch den Vergleich mit einer künstlerischen Anstrengung wie Jonas (1957), ein Film des Nervenarztes Ottomar Domnick, bei dem Vesely als Berater fungierte. Die Geschichte von dem Druckereiarbeiter Jonas, die an Gogols Der Mantel erinnert, zeigt ihn als einen Sonderling, der sich von seinen Kriegserinnerungen und Schuldgefühlen nicht befreien kann und mit der Modernisierung des Lebens nicht zurecht kommt. Die Story wie den expressionistischen Stil fand Vesely, wie er viel später sagte, „ziemlich antiquiert (…) so wie ein Spießer sich Kafka vorstellt.“7 Aufnahmen, die in Veselys Kurzfilmen kurz darauf eine positive Sicht des modernen Stadtlebens gaben, werden in Jonas durch die von H.M. Enzensberger geschriebene innere Stimme des Protagonisten zur Bedrohung. Nach diesem Film löste sich Vesely von dem Opfer-Syndrom der fünfziger Jahre, das auch ihn geprägt hatte, und wandte sich einer neuen Sachlichkeit zu, nicht ohne den formalen Gewinn seiner frühen Filme erneut einzusetzen.
Das (zu) genaue Leben
Bölls Erzählung Das Brot der frühen Jahre von 1955 handelt von dem jungen Waschmaschinenmechaniker Walter Fendrich, der seinen Platz im Leben scheinbar schon gefunden, ein Bankkonto und ein Auto hat, mit der Tochter des Chefs verlobt ist und plötzlich durch die Begegnung mit Hedwig, einem Mädchen aus seinem Heimatort, aus der sich anbahnenden Zukunft in die Vergangenheit versetzt wird. „Alles war abgemacht. Alles vorgesehen. Ich blätterte die Zukunft um wie ein Fotoalbum.“ Die Vergangenheit sind bei Böll die Hungerjahre nach dem Krieg in Köln, als ein Stück Brot noch etwas bedeutete, bei Vesely das Leben in der Ostzone, aus der er nach West-Berlin flüchtete. Das „ganz passable Leben“, in das er wie in eine Maschine geraten ist, gibt er auf, um, näher an sich selbst, neu zu beginnen. Bölls Geschichte spielt sich innerhalb weniger Stunden ab; sie wird linear erzählt, Erinnerungen an die Schulzeit, den Vater und die ersten Jahre der Lehre in der Stadt sind in den Gedankenstrom des Ich-Erzählers fließend aufgenommen. Im Film gibt es nur eine Rückerinnerung (an den Vater), aber viele Zeitverschiebungen und Wiederholungen innerhalb der Gegenwart, als müsste der Einbruch des Neuen, das mit Hedwig verwirrend in Walters Leben tritt, immer wieder besehen und bedacht werden. Der Film beginnt deshalb, anders als das Buch, gleich auf dem Bahnhof, wo Walter das Mädchen abholen soll. Die Choreographie der zeitlichen Bewegungen ist mit einer geradezu mathematischen Präzision ausgeführt, die ständigen kleinen Perspektivwechsel verleihen dem inhaltsarmen Geschehen eine anhaltende Spannung. Dass die Kritiker den Film mit L’année dernière à Marienbad von Alain Robbe-Grillet und Alain Resnais verglichen und Vesely als Epigonen sahen, ist kurzsichtig, entstanden doch beide Filme zur gleichen Zeit. (Drehbeginn war November 1961, die Suche nach der Finanzierung hatte zwei Jahre gedauert.) Vor allem hatte Vesely mit seinen Kurzfilmen eine Erzählweise zu einer Zeit praktiziert, als der nouveau roman eines Michel Butor, Robbe-Grillet und anderer, die als Vorbilder bezeichnet wurden, erst im Entstehen war. Dass Vesely sich von Böll abwandte, er ihn schon während der Dreharbeiten als veraltert sah und anschließend La Jalousie von Robbe-Grillet verfilmen wollte, ist irgendwie verständlich. Dabei war die soziale Genauigkeit von Bölls Erzählung Veselys Glück, denn sie zwang ihn zu einem Realismus, mit dem alleine seine komplizierte Strukturierung sich nicht in eine Marienbad-hafte Enthobenheit verlor, die man ihm dann ohnehin vorwarf. Auch dass Böll darauf bestand, die Dialoge und Sprachtexte (für den fertig geschnittenen Film) selbst zu schreiben, weil ihm Veselys Modernisierungsversuche missfielen8, dürfte kein Fehler gewesen sein. Damals war von Glück allerdings keine Rede, die nebenstehenden Auszüge aus Kritiken zeigen, wie schwer sich Kritik und Publikum damit taten, formalen Ansprüchen im Spielfilm, also außerhalb eines als Probierfeld verstandenen Experimentalfilms, gerecht zu werden. Das gilt auch für die exzellente Kameraarbeit von Wolf Wirth, die einerseits gelobt, andererseits als „kalt“, „extravagant“ und „überstilisiert“ bezeichnet wurde. Eine solche Freiheit der Kamera gab es damals nirgendwo, selbst in Frankreich höchstens bei Godard. Auch hier geht Bölls Realismus mit dem neugierigen Kamerablick eine heute als geglückt zu bezeichnende Symbiose ein. Als Beispiel sei auf die Szene zwischen Walter und seiner Verlobten Ulla im ersten Stock eines Kaffeehauses verwiesen, in der Walter seine Armbanduhr auf den Tisch legt und deutlich macht, wie abgelaufen ihre Beziehung ist, und die Kamera sich nervös bewegt und unmotiviert aus dem Fenster schaut, einfach so, als wäre er schon weg.
Es gehört zu Bölls und Veselys Vorzügen, dass sie nicht Partei ergreifen und werten. Ulla, gespielt von Vera Tschechowa, gehört zu den „entschlußstarken Leuten“ (Böll), d.h. sie ist eine pragmatische Vertreterin des deutschen Wirtschaftserfolges. Sie will Walter zurückgewinnen, indem sie ihm „Freiheiten“ zugesteht, auch soll er Teilhaber ihres Vaters werden. Das Wort „Brot“, das er wie eine Waffe gegen sie verwendet, kann sie nicht mehr hören, zurecht, denn sie kann nichts dafür, dass sie bereits im Wohlstand aufwuchs und nie Hunger hatte. Sie ahnt nicht, dass Walter ein Romantiker ist, dem plötzlich die „Liebe“ aufgegangen ist durch ein Mädchen, das die romantische Fremdheit verkörpert, auch wenn es aus seiner Vergangenheit kommt. Vesely machte das dadurch augenfällig, dass er die „dunkle“ Französin Karen Blanguernon (sie hatte zuvor eine kleine Rolle bei Chabrol) für die Rolle der scheuen Hedwig wählte. Auch sie wehrt sich gegen Walter. Nicht wegen des „Brotes“, sondern wegen seiner „Liebe“. Bei Böll gibt es dazu eine kurze, etwas rätselhafte Szene. Während Hedwig an einer Straßenecke auf Walter wartet, gesteht ihr ein fremder Mann seine Liebe und bittet sie, ihn zu heiraten. Fast wäre sie mit ihm gegangen, erzählt sie dann Walter, nur eine Minute länger hätte er durchhalten müssen, dann wäre sie in ein ganz anderes, ein kleines, aber gewisses und genau umrissenes Leben eingetreten. Sie wünscht sich eine Sicherheit, die Walter bereit ist aufzugeben. Diese kurze Begegnung an der Straßenecke ist keine amour fou, sondern der Fluchtversuch einer jungen Frau, der der hohe Liebesanspruch Walters Angst zu machen scheint. Vesely begeht hier den Fehler, das drängend Pathetische, das auch in Bölls Sprache vorhanden ist, durch Wiederholungen noch zu verstärken. Tatsächlich gerät der Film in dieser Szene unverständlicherweise in die hohe Tonlage von Hiroshima mon amour. Eine andere Schwäche des Films hat Vesely selbst benannt: die Musik. „Man hätte die Musik strenger behandeln müssen. Das Resultat fand ich nicht so befriedigend. Es sind zwar sehr viele schöne retardierende und reflektierende Momente drin. Manchmal braucht man eben zwanzige Jahre, bis man auf eine Sache kommt! Musik ist eine ungeheure Verführung. Wenn man etwas gefällig und schön machen will oder überhöht, dann ist das nicht gut. Musik muß man eigenständig einsetzen. Genauso spezifisch, wie man einen spezifischen Film macht.“9
Dass Vesely und Böll die Handlung nach Berlin verlegten, ist durchaus sinnvoll, denn das Unbehagen des Walter Fendrich angesichts des deutschen Wirtschaftswunders war der Zeit näher als die Erinnerung an die Nachkriegsjahre. Kritiker warfen dem Film vor, dass der politische Aspekt der geteilten Stadt unterschlagen wird. Die Forderung nach politischer Erkennbarkeit ist verständlich, heute ist die Darstellung gesellschaftlicher Unterschiede im Privaten, bei Vesely wie bei Böll, in erster Linie eine Frage der Genauigkeit.
Das Brot der frühen Jahre
Die Kritiken in Deutschland und Frankreich begannen meist damit, dass Vesely als eine oder sogar einzige Hoffnung des neuen deutschen Films bezeichnet wurde und die Erwartungen groß gewesen seien. In der „Filmkritik“ (6/1962) schrieb der spätere TV-Produzent Günter Rohrbach: „Hätte man Das Brot der frühen Jahre, als Startversuch des ‚neuen deutschen Films’ deklariert, in Schwabing ans Licht gebracht, wäre ihm vermutlich lebhaft applaudiert worden. Veselys Films ist zweifellos diskussionswürdiger als alle die Konfektionsware, die gemeinhin in deutschen Ateliers produziert wird. Intensiver noch als in den meisten früheren Filmen seines Regisseurs manifestiert sich hier eine außerordentliche optische Begabung. Wo hätte man je in einem deutschen Film der letzten Jahre Bilder von solcher Apartheit gesehen, wo Einstellungen von solchem Raffinement, Schwenks von ähnlicher Verwegenheit? Das hat streckenweise durchaus das Niveau eines Resnais, Malle oder Antonioni. Aber …“
Nach dem „Aber“ kommen dann einander widersprechende Wertungen wie: „Beschuß stets wechselnder Kameragags“, „Die Kunst (sofern es eine ist) scheint hier so gänzlich ihres vergnüglichen Aspekts beraubt“, „mangelhafte Konsumierbarkeit des Films“, „Anfälligkeit für Oberflächenreize’“ oder „Eindruck quälender Eintönigkeit“. Der Starkritiker Friedrich Luft setzte in „Die Welt“ (21.5.1962) Wendungen wie: „Der Film macht nervös, weil er sich selbst so hintan hält“, „humorlos und monoton“, „ausdruckslos und bestenfalls wehleidig oder gar krank“, „die irrig modernistischen Kalkulationen“.
Die Franzosen sahen den Film differenzierter. Die positivste Kritik erschien in „Le Figaro“.
„Das Brot der frühen Jahre, in Westdeutschland unter der Regie von Herbert Vesely gedreht, ist kein gewöhnlicher Film. Sein Autor zerlegt, der augenblicklichen Mode folgend, die Zeit in Fragmente. Mehrere Protagonisten – unter ihnen der Held – erzählen eine Geschichte in Bruchstücken, die verbunden werden durch eine sehr gut ausgewählte, ständig wiederkehrende Szene. Aber die einzelnen Teile dieses Puzzlespiels fügen sich nach einem eindeutigen Grundriß zusammen. Sie ermöglichen originelle Gegenüberstellungen. Das Ganze ist ohne Zweideutigkeit. Die rekonstruierte Handlung hat eine völlig klare Form. Das ist Marienbad korrigiert durch Cléo. [Der Kritiker meinte vermutlich, dass die Stilisierung von Marienbad durch einen Realismus wie in Cléo de 5 à 7 von Angès Varda „geerdet“ wird.] Die Handlung ist nicht uninteressant: ein junger Mann verlässt ein Mädchen, das für ihn Komfort und Sicherheit bedeutet, um sich einem anderen zu nähern, das zwar weniger Sicherheiten bietet, in dessen Nähe er aber freier atmet. Vesely übersetzt diese Odyssee des Herzens in Bilder, von denen viele faszinieren. Er scheint einen neuen Impressionismus schaffen zu wollen. Seine Persönlichkeit ist unverkennbar. Und das ist etwas, das wir aus Deutschland seit langer Zeit nicht mehr kennen.“
Die „Filmkritik“ (6/1962, S. 286-288) brachte diese und andere französische Kritiken in ihrem Pressespiegel.
Lesenswert ist auch, aus einem anderen Grund, die Kritik der „Libération“. Dort heißt es u.a.: „Ich glaube nicht, dass Vesely Godard, Resnais und Chabrol zu imitieren versucht hat, und zwar glaube ich es deshalb nicht, weil er alle diese Verfahrendweisen schon in nicht mehr fliehen angewandt hat, einem Film, den er vor acht Jahren drehte, also lange vor Hiroshima und Marienbad. Diese Art von Film ist sehr zerebral und verlangt eine ständige Anstrengung seitens des Zuschauers, für die dieser aber schließlich doch nicht belohnt wird. Vielleicht bleiben bei dieser Häufung von Mitteln, deren sich die Kamera bedient, einige Ausdrucksverfahren übrig, mit denen man seelische Verhaltensweisen erklären kann. Aber die dauernde Suche nach Neuem um jeden Preis, dieser mallarméhafte Wille, ‚Dunkles zu machen’, bewirkt, dass es praktisch unmöglich ist, diesem Film zu folgen, ohne nicht gleich hinterher die Augen mit einem Tonikum zu behandeln und einige Röhren Aspirin zu schlucken, um die Migränen zu bekämpfen, die er hervorruft.“ (Der Kritiker hatte Glück, nicht in die Filme von Peter Kubelka und Kurt Kren geraten zu sein.)
Schwer zu übertreffen war schließlich auch die Kritik von Rudolf Weishappel im Wiener „Kurier“ (22.5.1962), die unter dem Titel „Das Brot der frühen Jahre ist ein ungenießbares Gebäck“ erschien. „Der ganze Film nimmt sich etwa so aus wie die begabte Doktorarbeit eines Volksschülers. Was dieses ganze Filmwerk so besonders unerträglich macht, ist jene Präpotenz, jener geistige Hochmut, die es auch dem nur mittelmäßig begabten Deutschen [sic] unmöglich machen, auf der Erde zu bleiben und Menschen und Dinge mit Liebe zu betrachten. Fest schreitet er aus, den Blick zu den Sternen, zu Gott erhoben, den er als den einzigen seiner würdigen Gesprächspartner betrachtet, und fällt dabei immer wieder auf die Nase.“
Die richtige Straße ist die Parallelstraße
„Die Weisheit wäre – die Welt zu sehen.“
Jean-Luc Godard
Die Parallelstraße ist einer der ungewöhnlichsten deutschen Filme überhaupt, ein Unikum, mit keinem Film seiner Zeit vergleichbar.
Ferdinand Khittl (1924-1976), geboren in der Tschechoslowakei, war sechs Jahre lang Matrose bei der Handelsmarine, arbeitete nach der Kriegsgefangenschaft als Maurer, Bäcker, Hühnerzüchter und Vertreter für einen Filmverleiher in der Provinz, kam 1952 als Volontär zu Luis Trenker, war 1953/54 bei drei von dessen kurzen Dokumentarfilmen als Cutter tätig, stellte ab 1955 selbst Dokumentar- und Industriefilme her und fertigte 1957 eine lange Dokumentation über den Ungarnaufstand – Ungarn in Flammen. Zusammen mit Haro Senft gründete er 1959 eine „Gruppe für Filmgestaltung“ zur Förderung des Kurz- und Dokumentarfilms. Aus der Mitarbeit anderer junger Filmschaffender ergab sich 1962 in weiterer Folge das „Oberhausener Manifest“ und im gleichen Jahr die Gründung einer Filmabteilung an der Hochschule für Gestaltung in Ulm, die sich als Nachfolgeinstitut des Weimarer Bauhauses verstand.
1959 und 1960 unternahm Khittl zusammen mit dem Kameramann Ronald Martini zwei ausgedehnte Weltreisen, die sie nach Asien, Australien, Ozeanien, Afrika und Südamerika führten. Nach der ersten Reise entstand aus dem Bestreben, das in Farbe auf 16 mm gedrehte Material zu verarbeiten, die Idee zu einem Film, der über das rein Dokumentarische hinausgehen sollte. Nach der zweiten Reise entwickelte sich, vor allem durch die Mitarbeit von Bodo Blüthner (1922 – 2001), nach und nach das Konzept und Drehbuch zu Die Parallelstraße.10 Produziert wurde der Film von Martinis Vater Otto Martini, für dessen „Gesellschaft für bildende Filme“ Khittl, Ronald Martini und Blüthner sehr erfolgreich Industriefilme gedreht hatten. Blüthner hatte seit den frühen fünfziger Jahren außerdem u.a. mit Hans Rolf Strobel und Michael Ende Dokumentarfilme fürs Fernsehen hergestellt und war Regieassistent an den Münchner Kammerspielen gewesen.
Das Drehbuch unterwirft die dokumentarischen, dem Stil der Zeit entsprechend zur Abstraktion neigenden Aufnahmen einem rigiden Konzept. In einer schwarz-weiß gehaltenen Rahmenhandlung, die schon im Bild ein Eingeschlossensein signalisiert, werden fünf Männer von einem „Protokollführer“ angehalten, nach einem System, dem sich die Fünf unterworfen haben, eine Ordnung und damit einen Sinn in die mit Nummern versehenen 308 „Dokumente“ zu bringen, die ihnen vorgeführt werden und von denen der Zuseher 16 zu sehen bekommt. Die Männer sind, wie der Protokollführer die Zuschauer gleich am Anfang wissen lässt, intellektuell und darum existenziell vom Scheitern bedroht.
In der Rezeption des Films – wie auch in den Kommentaren seiner Autoren – stand das Scheitern des „Gremiums“ an seiner absurden Aufgabe im Vordergrund. Der Rezensent der „Filmkritik“ brachte den Inhalt des Films witzig auf folgende Formel: „In einem Kafka-Raum sitzen fünf Ionesco-Personen in einer Sartre-Situation und mühen sich mit einem Camus-Problem.“11 Den von der Reise mitgebrachten Aufnahmen warf der Kritiker vor, banal zu sein. „Warum hat Khittl“, klagte er, „sich nicht an Eisensteins Arbeit in Mexiko erinnert?“ Was Khittl und Blüthner sprachlich und in der Montage mit dem Material machten – und mit welcher Konsequenz – interessierte ihn kaum. Jedes der gezeigten „Dokumente“ von wenigen Minuten Länge bietet durch ihre Verschiedenartigkeit einen anderen Zugang. Die Sprache, die sie beschreibt und vorgeblich erklärt, ist nüchtern und wissenschaftlich (gleich den zuvor gedrehten Industriefilmen). Auch die unterschiedlichen Themen (Wasser und Erosion, Reis in Asien, ein Flaschenbaum in Nordwestaustralien, ein Vulkan, Brasilia, das Wort „Löwenmut“) könnten einem beliebigen Kulturfilm entnommen sein. Unversehens kippt aber die technische und filmische Sprache in eine absurde Ordnung, die die mit ihrer Beurteilung beschäftigten Männer vor die Frage stellt, ob von einer technischen oder seelischen Funktion der Dinge die Rede ist. Auch entkommen sie nicht der Evidenz des Absurden: Dinge stehen Kopf, Ludwig Tiecks Verkehrte Welt breitet sich aus. So wird die Geschichte eines Mannes in die Zukunft hin entworfen („er wird …“), während sich herausstellt, dass die Zeit nach rückwärts läuft. Durch Verschiebungen entsteht eine absurde Poesie: Ein „Gefangener“, von dem die Rede ist, ist ein Fisch. Gefangeneninseln in den Tropen werden in einer Umkehrung, die an Jean Genet erinnert, zu „Inseln der Glückseligkeit“. Diese Methode funktioniert, weil Khittl und Martini sich bei den Aufnahmen gerade nicht an Eisenstein orientierten, sie vielmehr Bausteinen gleichen, die von Bedeutungen weitgehend unbelastet sind. Obwohl sie durch die Reisesituation nicht anders als von Zufällen bestimmt sein können, ist die Bildsetzung durch den Blick auf die neu zu erfahrende Welt nicht beliebig, werden einzelne Orte, etwa eine Brücke in Sydney, mit der Genauigkeit eines Dokumentarfilms erfasst.
Die Erfahrung fremder Orte und das Spiel mit den Möglichkeiten, die sie der Erkenntnis bieten, sind Ausdruck von Freiheit und lassen Die Parallelstraße als eine Vorform des Road Movie begreifen. Es sind zwar die zurückgelegten Wegstrecken und die Form der Bewegung ausgeblendet, wenn man von den Flugzeugen, die am Anfang groß ins Bild kommen, und einigen Flug- und Fahrtaufnahmen absieht, aber wie beim Road Movie ist das Spannungsverhältnis zwischen dem beweglichen Individuum und der verharrenden Gesellschaft ausschlaggebend. Im Film wird daraus ein harter Gegensatz. Den zur Einhaltung von Regeln verpflichteten Vertretern eines anonymen Apparates, die Ordnung in die Dokumente aus dem Leben „einer fraglichen Persönlichkeit“ bringen und sogar deren „Neutralisation“ betreiben sollen, und selbst wie arretiert an ihrem Tisch im weißen Lichtkegel festsitzen, stehen höchst bewegliche, nämlich bunte, fantastische und poetische Kartografien der bereisten fremden Territorien gegenüber.
Die Filmkritiker sahen den Konflikt als einen philosophischen, beurteilten ihn aber als einen soziologischen. Filmemacher wie Khittl entzögen sich der Realität und betrieben Sinnverweigerung. Wilfried Berghahn, der Mitherausgeber der „Filmkritik“, vermutete sogar, gar nicht so falsch, dass die fünf Sinnforscher des Films „gleichsam stellvertretend für all die bemühten Kritiker stehen, die immer wieder Sinnzusammenhänge mithilfe von vorgefaßten Theorien zu entschlüsseln versuchen“, während die Filmemacher mit ihren Filmen „ausgiebig demonstrieren, dass nichts, aber auch gar nichts aus ihnen herauszulesen ist.“12 Im Zusammenhang mit einem anderen Film schrieb Berghahn: „Die optischen Analogien und zufälligen Montagemöglichkeiten des Materials überspielen alle Ordnungsvorstellungen.“ Damit könnte er auch Khittls Film meinen. Und zugleich das Geschäft der Männer in Khittls Film betreiben, denen die Möglichkeitsform zu ihrem Verdruss jede Gewissheit raubt.
Der Film beginnt mit einem Filmende. Eine kurze Szene zeigt den Abschluss der zweiten Nacht, in der das „Gremium“ zusammensaß. Es folgen ein Nachspann und eine Sprecherstimme, die die Mitwirkenden nett und ausführlich („Sie sahen einen Film …“) wie in einem Unterhaltungsfilm vorstellt. Dann wird der II. Teil als beendet erklärt und beginnt Teil III. Die „fragliche Persönlichkeit“, die alle die Dokumente mit ihren korrekten wie absurden Sprachbildern liefert, sind die Autoren selbst. Hinter der Ernsthaftigkeit, mit der sie ihr Publikum in die Philosophie oder Verzweiflung trieben, lässt sich ein Sinn für Humor vermuten, der sich in einer kompliziert vorgetragenen Tautologie äußert: ein Film ist ein Film wie eine Reise eine Reise ist. Dass die Kartografien, die sie aus der Fremde mitbrachten, in der heimischen Landschaft, die kaum Freiräume zuließ, unverständlich sein würden, scheinen sie in ihrem Ordnungsspiel einkalkuliert zu haben.
Khittl und Blüthner, die man heute, fern philosophischer Zuordnungen, mit einem anderen Spieler mit Zahlen und absurden Ordnungsvorstellungen vergleichen kann, nämlich Peter Greenaway, und die als künstlerische „Quereinsteiger“ einem literarischen Außenseiter (und Unternehmer) wie Ernst-Wilhelm Händler (Wenn wir sterben, 2002) in dieser Hinsicht verwandt sind, hatten anders als diese beiden mit den Kritikern ihrer Generation kein Glück. Während ihnen die einen unhistorischen Irrationalismus vorwarfen, gingen sie den anderen nicht weit genug. Die Parallelstraße erhielt zwar beim Experimentalfilm-Festival in Knokke den Großen Preis (in der Jury saßen Jean Cayrol, Norman McLaren, James Broughton, Jan Lenica und Herbert Vesely), war aber angesichts der Avantgarde aus Amerika und Europa, die bereits weitaus radikalere Positionen einnahm (und von der Kritik aus den gleichen Gründen wie Khittl abgelehnt wurde), weit abgeschlagen.13 Anders als heute, da ein Pluralismus der Formen und Stile vorherrscht, verlangte die Zeit damals eine klar definierte Erkennbarkeit, die der Film gerade infrage stellte. Khittl war an seinen deutschen Kritikern gescheitert – wie sie an ihm – und machte keinen weiteren derartigen Film mehr. Eine von ihm geplante „Biographie eines Sturms“ kam nicht zustande. Blüthner landete bei einer großen Werbefilmfirma in München, für die auch Edgar Reitz (Geschwindigkeit) arbeitete, Martinis Produktionsfirma ging Pleite.
Die Parallelstraße
Wie bei Vesely lohnt es sich, einen Blick auf die Kritiken zu werfen. Enno Patalas griff, anders als beim Verriss von Veselys Film, diesmal selbst in die Tasten: „Der Film gibt sich als Parabel auf die Absurdität menschlichen Mühens um Erkenntnis, aber der Erzählung mangelt ebenso wie der filmischen Gestaltung die konsequente Umsetzung ins Artifizielle, die die Parabel erst vor der Realität legitimiert. Statt Stil wird ein Konglomerat von Tricks und Ticks geboten. Die Echos von Kafka, Sartre, Camus, Ionesco und Beckett hallen von leeren Wänden wider. Möglich, dass Bodo Blüthners Buch die Chance zu einem absurden Film in sich barg und Khittls uninspirierte Regie sie ungenutzt gelassen hat.“ (Enno Patalas: Knokke: Experimentalfilme – gibt’s die?, in: Filmkritik 2/1964, S. 100). Was Regie in einem konzeptuellen Film wie diesem überhaupt bedeutet, bleibt unberührt. Ebenso unklar ist, wie Helmut Färber dazu kam, den Autoren zu unterstellen: „…am liebsten hätte man die ganze Welt gefilmt und sämtliche Menschheitsfragen an ihr Ende geführt.“ (Filmkritik 7/1966, S. 384). Klartext redete der Kritiker der Münchner Abendzeitung (10.5.1966): „Hier haben wir es mit einem jener experimentellen Schreckgespenster von Filmen zu tun, um die der Normalverbraucher einen Bogen macht.“ „Formale Exzentrik“ und „thematische Seiltänzerei“ machen einen solchen mit „wertvoll“ prädikatisierten Film zur „Torturveranstaltung“. Die schärfste Konklusion aber zog der Kritiker und Autor Werner Zurbuch (Die Parallelstraße … und wohin führt sie? in: Die Literatur-Revue 5/1962, München): „Es gilt, von einem Experiment zu berichten, das sicher nicht als geglückt bezeichnet werden kann, aber notwendig war, um zu zeigen, dass der deutsche Film auf diesem Weg nicht vorankommen kann.“
Dagegen Frankreich: Raymond Borde bezeichnete den Film nach dem Filmfestival in San Sebastian 1962 als einen „köstlichen Streich“, der so tue, als triefe er von Metaphysik, und schrieb: „Ich ziehe meinen Hut vor Ferdinand Khittl.“ (Positif Nr. 48, S. 52). Jean-Paul Torok schrieb 1964, nach Cannes: „Von dieser Parallelstraße wird sich niemand abwenden, der sich die Gabe der Neugierde bewahrt hat, den Geschmack am Risiko, und, konfrontiert mit der Büchse der Pandora, den unwiderstehlichen Drang zum Ungehorsam. Besser noch: dieser Film fordert seine Mitwirkung, weckt seine imaginativen Kräfte, integriert sein Kalkül und seine Reaktionen. Er beschert uns weniger ein Schauspiel als ein hohes Spiel der Intelligenz, dessen Einsatz unwägbar, dessen Ausgang tragisch, dessen Lösung fraglich sein kann.“ (Positif Nr. 64-65, S. 121)
Die Brücken zur Wirklichkeit
„Für mich kommt zuerst das Lachen, und immer wieder das Lachen.“
„Meine Wunden mit Lachen behandelt.“
„Und da darf doch keine Botschaft herauskommen außer der einen, der hat gemacht, was er konnte!“
Vlado Kristl
Zwei Filmemacher, die nicht in Deutschland geboren wurden, aber dort Filme machten, der aus Zagreb stammende Vlado Kristl (1923-2004) und der in Metz geborene Jean-Marie Straub (* 1933), miteinander kollegial befreundet, sind in ihren Filmen kaum gegensätzlicher vorstellbar und doch sehr ähnlich. Beide waren (und sind) Einzelkämpfer (auch Einzelkämpfer zu zweit: Straub und Danièle Huillet) und kompromisslos. Beiden ging es darum, der Wirklichkeit, die das „Kino“ traditionell herstellt, nur ja zu entkommen, um ihre eigene, sehr persönliche Sichtweise unverstellt zu vermitteln. Straub führte die Suche nach dem Essenziellen in einen filmischen Purismus, Kristl in eine Dialektik der Negation. Straub suchte eine Verdichtung im Minimalismus, Kristl wollte das Unfertige erst gar nicht verlassen; nahm es doch Gestalt an, griff er zu Destruktion, Verleugnung und Verwirrung.
„’Zerstören’ ist eine seiner Lieblingsvokabeln: zerstört werden muß, damit kein unreflektiertes, unbefragtes Material sich irgendwo ablagern kann, nicht nur das Vorhandene – gewohnte Sehweisen, Erzählformen, Verhaltensmuster, von den industriellen Klischees ganz zu schweigen -; zerstört werden muß auch und vor allem das vom Filmemacher selbst Gefundene, Erfundene, damit es sich nicht etabliert als neue Konvention und dem Filmemacher wie dem Betrachter seine Eindeutigkeit aufzwingt. Wenn eine Fabel sich einschleicht und Kontinuität sich einstellt, um Kausalitäten zu suggerieren, wenn ‚Einsicht’ gefährlich nahe kommt: dann muß alles ‚zerschnitten’ werden.“14
Straub und Kristl sind Moralisten, deshalb schlägt nicht nur bei einem Aufklärer wie Straub, sondern auch bei einem Individualisten wie Kristl wenn schon keine Botschaft, so doch eine Haltung durch. Zu seinem Kurzfilm Arme Leute (1963) erklärte Kristl (im Katalog des Experimentalfilm-Festivals in Knokke 1963/64): „Je mehr Menschen sich zusammenschließen, desto schwächer sind sie. Das ist die Meinung des Einzelnen.“
Das war die Meinung eines Künstlers, der mit den Zwängen der kommunistischen Herrschaft in Jugoslawien groß geworden war und sich sein Leben lang jeder Art von Vereinnahmung zu entziehen versuchte. In dem Drehbuchentwurf zu Arme Leute ist diese Grundhaltung noch klar formuliert. „Die ursprüngliche Geschichte“, schrieb Ernst Schmidt jr. dazu, „ist gänzlich anders als der fertige Film. Und doch, wenn man den Film gesehen hat und die Geschichte nochmals liest, kann man erkennen, wie genau Kristl die Gedanken, die in der Story verankert sind, in den Film übertragen hat. (…) Je mehr Kristl von seiner Geschichte abgeht, sie umändert, ins Bild übersetzt, desto genauer wird die Idee, die in ihr zum Ausdruck gebracht wurde.“15
In Der Damm mimt Kristl einen Mann, der wie ein trauriger Clown ein Mädchen liebt, das einen anderen bevorzugt. Das Bruchstückhafte des Films ist nicht notwendigerweise als Zerstörung zu verstehen, sondern ergibt sich aus einer Ansammlung von „Augenblicken“. Kristl stellte später Sekundenfilme her. „Extrem reduzierte Wort- und Geräuschfragmente, die mit der Fragmentation der Handlung parallel gehen, bewirken jenen existentiellen Witz der Bitternis und Skepsis, wie er auch den reduzierten und animalischen Verhaltensweisen der Figuren Becketts entspringt. (…) Diese Freiheit des Manipulierens ist Ausdruck des Zweifels. In Frage gestellt wird die Wirklichkeit und die Möglichkeit der Kunst, Wirklichkeit identisch zu präsentieren, mit dem Resultat, dass das Zeigen an sich diskreditiert wird.“16
„Hang zum Destruktiven würde ja auch ein Interesse voraussetzen fürs Zerstörenswerte, dergleichen aber kümmert Kristl wenig: Bei ihm wird nicht eine bekannte Umwelt zitiert, er erfindet sich lieber seine eigene, das ist sicherer. In hart kopierten und montierten, nie genau aufeinander reagierenden optischen Bruchstücken erscheint die kahle Szenerie eines Steinbruchs und eines schmalen Damms – sonst nur noch etwas Bahnhof und Bahnfahrt. Stücke von Gesichtern, von mimischen Vorgängen, von Vorgängen wie Laufen, Faxenmachen, Umarmen, Steineschleppen. Alles grotesk, komisch, plötzlich, entschieden, richtungslos. Optisch igelt Kristl sich ein.“17
Werner Zurbuchs Feststellung zu Die Parallelstraße, dass auf diesem Weg der deutsche Film nicht vorankommen könne, hätte nach seiner Einschätzung für Kristl und Straub ebenso gegolten, einfach deshalb, weil er wie die meisten Kritiker den Spielfilm im Visier hatte, den Kristl (solange er konnte) und Straub (immer) ebenfalls für sich beanspruchten. Straub sagte über Nicht versöhnt: „Kein sogenannter Experimentalfilm, sondern ein Film für die vielen, die man seit Jahren in einem Ghetto von Grün-ist-die-Heide-Edgar-Wallace-Winnetou versucht zu vergiften oder zu chloroformieren.“18 Dieser Anspruch, den Film per se außerhalb des unfruchtbaren Ghettos, das selbst Straub im Experimentalbereich zu sehen glaubte, herzustellen, verschärfte die schwelende Auseinandersetzung, wie denn dieser Film auszusehen und deutsche Wirklichkeit zu repräsentieren und vor allem zu interpretieren habe.
Diese Diskussion lief auch in der Literatur. Hans Magnus Enzensberger vertrat in seinen Aporien der Avantgarde die Ansicht, dass Experimente in der Kunst gegenüber der Gesellschaft risikolos und daher verantwortungslos sind. Den Experimentator hielt er moralisch für immun, da sein Experiment sich außerhalb jeder allgemeinen Erfahrung bewegt.19 Diese der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts verpflichtete und längst überholte Auffassung vom Experiment als „lebensfremd“ ließ sich auch auf den Film anwenden. Der aus dieser Richtung kommende Alexander von Cube sah in den Filmen von Kristl, Khittl und selbst bei Godard und Resnais eine „Flucht in die Kunst“.20 Zu Khittls Film schrieb er: „Die Realität wird der Fiktion untergeordnet. Der Querschnitt durch das Reich der Seele setzt die Unverbindlichkeit absolut. Wo über die Unwahrscheinlichkeit der Fabel selbst zu Marienbad noch ein Zugang offen bleibt, sind die Brücken zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit radikal zerstört. Aus der Parallelstraße führt kein Weg zurück.“ Der Autor ging so weit, bei Khittl wie bei Kristl eine Realitätsverweigerung wie in „Papas Kino“ zu sehen. Zu Der Damm schrieb er: „Kristl besingt das Heidegrab im Herzen. Das Leben in der Wirklichkeit ist nicht das wirkliche Leben. Je unwirklicher aber die Wirklichkeit erscheint, desto wirklicher muß die Unwirklichkeit erscheinen. Es gibt auch eine Daseinsflucht nach vorn.“
Es ist bezeichnend, dass in Österreich, wo sich der experimentelle Film zur gleichen Zeit vom Spielfilm fürs erste abwandte, das Paradigma „Wirklichkeit“ eine ganz andere Deutung erfuhr. Nicht die Wirklichkeit, die von Kritikern wie Enzensberger vom Spielfilm und in der Literatur verlangt wurde, sondern die Wirklichkeit des filmischen Materials wurde untersucht und die Sprache des Films zum Inhalt. Das ist besonders an den Filmen von Ernst Schmidt zu sehen, der anfangs stark von Kristl beeinflusst war, aber dann, anders als dieser, seine Untersuchungen zur Wirklichkeit in kleinen Formaten und daher finanziell unabhängig viel radikaler und ungebremst weitertreiben konnte.
Dass der von Enzensberger ausgemachte „Nicht-Weg“ im Bereich des Films mit Straub einen Ausweg bereithalten würde, war nicht gleich abzusehen. Straub, der mit Machorka-Muff und Nicht versöhnt auf Böll zurückgriff, machte mit seiner von Brecht abgeleiteten spröden Kunstlosigkeit deutlich, dass für eine filmische Bravour wie in Veselys Böll-Verfilmung die Zeit abgelaufen war. Dabei wies Bölls Roman Billard um halb zehn von 1959, dem Straub schon mit dem Titel Nicht versöhnt jede Mehrdeutigkeit austrieb, jene komplizierten Strukturen auf, die Veselys Brot der frühen Jahre ausgezeichnet hatten. Straub missachtete Bölls Zeit- und Handlungsverschiebungen und löste (wie Kristl) alle Ebenen in einer unterschiedlosen Gegenwart auf, was den Film nahezu unverständlich machte. Böll war mit Straubs Film überhaupt nicht einverstanden, blieb doch nach Straubs Kahlschlag nur mehr ein Gerüst, an dem die fünfziger Jahre mit bleierner Schwere hingen. Straub, der sich von Bölls Verleger verfolgt fühlte, flüchtete mit seinem Film in die Schweiz. Die Kritiken waren schlecht. Straubs filmisches Schicksal wäre besiegelt gewesen wie das der anderen, wären aus Frankreich nicht einige Zwischenrufe in die Redaktionsstuben gedrungen, die Straubs Film unerwartet Bedeutung zugestanden.
Ausgerechnet Straub, der Unkonsumierbarste von allen, zeigte einen formal gangbaren Weg. Der erste, der ihn zielstrebig einschlug, war Rainer Werner Fassbinder. In Straubs Kurzfilm Der Bräutigam, die Komödiantin und der Zuhälter (1968) zeigt einer der drei Blöcke, aus denen der Film besteht, in einer Plansequenz die Bühne des Action-Theaters, auf der Straubs Inszenierung von Ferdinand Bruckners Krankheit der Jugend in zehn Minuten abläuft. Es spielte das Ensemble von Rainer Werner Fassbinder. Dieser übernahm in seinen Spielfilmen, die er ab 1969 drehte, Straubs stilistische Eigenheiten. Aus Geldgründen drehte er wie Straub in langen Einstellungen21, verwendete er lange Kamerafahrten, hielt er die Darsteller zu einem künstlichen Sprachduktus an. Während bei Straub alles sehr schnell vor sich geht, dehnen Fassbinders Filme Zeit wie Sprache. Straubs asketische Filmkonzeption führt bei Fassbinder durch die Verankerung in den Ritualen des Genrekinos (Liebe ist kälter als der Tod) und in der kleinbürgerlichen Welt der Protagonisten (Katzelmacher) – beide Filme entstehen 1969 – zu Kinoerzählungen, die in sich schlüssig sind. Sein kritischer Realismus in der Tradition von Ödön von Horváth und Marieluise Fleißer wird durch ein Minimum der Mittel zu einer optimalen Verdichtung kleinbürgerlichen Alltags und gesellschaftlicher Wirklichkeit. Dass Fassbinder bei dem asketischen Filmstil nicht stehenbleiben würde, deutete sich schon im nächsten Jahr (und vier Spielfilme später) bei Die Niklashauser Fart an. Die Kontinuität wird brüchiger, die Kamera beweglicher. Fassbinder baut eine Szene ein, in der er als Regisseur auftritt, wie Kristl in Arme Leute und Der Brief (1966) und Ernst Schmidt in 15. Mai 1966. Mit der zunehmenden Beherrschung seiner filmischen Mittel wird die Kameraführung in den folgenden Filmen komplizierter, entstehen jene Spiegelungen, Durchblicke und anderen manieristischen Details, die Wolf Wirth bei Veselys Das Brot der frühen Jahre noch angekreidet worden waren. Auch bei Wim Wenders, der sich in seinen frühen Kurzfilmen an das strenge Schema der langen Einstellungen hält, tauchen wieder formale Mittel wie bei Vesely auf, etwa wenn er erzählende Stimmen kontrapunktisch in der ersten und dritten Person verwendet. In der Folge wird er die fotografische Schönheit trauriger Orte entdecken, wie sie Khittl und Martini auf ihren Parallelstraßen festgehalten hatten.
Diese Korrelationen zeigen, wie schwer sich der deutsche Film tat, nicht nur zu einer neuen Filmsprache zu finden, sondern überhaupt zu der Erkenntnis zu gelangen, dass eine Sprache notwendig ist, um etwas sagen zu können. Die frühen filmischen Experimente, mit denen Vesely begonnen hatte, wurden daran gemessen, ob ihre Sprache ausdrücken könne, was an Inhalten schon bereitlag. Da sie das nicht konnten oder wollten, wurden sie als Sackgasse gesehen. Der „hochfliegende, esoterische Matinée-Geist“ der Experimente sei „unverbindlich und folgenlos“, habe den Bezug zur Realität verloren, wäre etwas für „diskutierwütige Cineasten (…) wie sie Martin Walser in seiner Satire Die letzte Matinée [1955] lächerlich gemacht hat, ‚Vögel, die ohne Flügel zur Welt gekommen sind, Apostel, die keinen Christus gefunden haben ..’ “22 Selbst der italienische Neoverismus, diese „mehr noch moralisch-politisch als ästhetisch bestimmte(n) Bewegung“, wurde an seinem Engagement gemessen. Dieses Missverständnis klärte sich zwar Mitte der sechziger Jahre auf, mit der Übernahme einiger formaler Mittel war es jedoch noch nicht getan. Die Rückgewinnung einer eigenen (deutschen) Filmsprache und damit der eigenen (deutschen) Wirklichkeit blieb weiter ein Streitfall.
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„Meine Ansicht ist immer die gewesen, dass je schöner und je gemachter und inszenierter und hingetrimmter Filme sind, umso freier und umso befreiender sind sie.“
Rainer Werner Fassbinder
Nach dem Krieg hatte die Kriegsgeneration mit ihren Kriegs- und Antikriegsfilmen die Vergangenheit fest in der Hand. Die nächste Generation wollte in der Gegenwart bleiben, die braune Vergangenheit war für sie kein Thema. Und dennoch ist sie schweigend da. Die jungen Männer (selten Frauen), die so oft im Zentrum der Filme stehen, sind in einer Gesellschaft, die mehr aus dem Alten denn aus Neuem ihre Konturen wiedergewinnt, Außenseiter, schweigsame Fremde, die sich unentschlossen in sich selbst zurückziehen. Verinnerlichung bestimmte bereits den „zeitlosen“ Experimentalfilm der fünfziger Jahre und setzte sich mit Das Brot der frühen Jahre auch im zeitbezogenen Spielfilm durch. In einer Welt, die kühl beobachtet, aber nicht geliebt wird, die grau und anonym aussieht, wo nichts für das Ganze steht – während kaum ein Film der Nouvelle vague versäumt, den Eiffelturm beiläufig und liebevoll ins Bild zu bringen -, „sieht sich die potentiell rebellische Generation paralysiert: Die Alten selbst im irrigen Glauben, sie hätten irgendwann beim Punkte Null begonnen, halten sich für die Neuerer. (…) So fulminant ist der Irrtum, seine Widerlegung so schwierig, dass den Jungen nichts bleibt als Verbitterung und Resignation.“23
Die alten Nazis sind wieder in Amt und Würden (Machorka-Muff), die Gewinner des wirtschaftlichen Aufstiegs restaurieren die alten Einordnungsrituale (die Treibjagd als Sinnbild sozialer Machtverhältnisse) und pflegen den feudalen Lebensstil von ehedem (Schonzeit für Füchse) und konditionieren die Jungen zur Anpassung (Der sanfte Lauf, Haro Senft, 1967). Diese sitzen in den Salons der Alten, aber nur weil für das eigene Wohnzimmer, das auch nicht viel anders aussehen wird, noch der Kredit fehlt. Und selbst wenn die Alten aufgeschlossen und betont modern sein wollen, bleibt den Jungen keine eigene Zukunft (Tätowierung, Johannes Schaaf, 1967). Der Abschied von gestern, den Alexander Kluge meint, gelingt den Jungen noch weniger als den Alten, denn sie finden nicht zu ihrer Identität und damit keine Zukunft. „Uns trennt von gestern kein Abgrund, sondern die veränderte Lage“, heißt es bei Kluge. Jene, die der „sanfte Lauf“ nicht nach oben führt, scheitern. Die Lage ist verändert, aber nicht anders.
Was ein Kritiker über den jungen Helden (gespielt von Bruno Ganz) in Der sanfte Lauf sagt, gilt nicht nur für die Protagonisten auch anderer Filme, sondern für deren Autoren selbst:
„ … er macht Erfahrungen mit den Augen, er sieht sehr schnell und sicher und bewertet die Welt, indem er sie beobachtet. Aber er hält Distanz zu ihr, so leicht mengt er sich nicht ein, und wenn seine Erwartungen größer sind als die Angebote der Realität, zieht er sich auf sich selbst zurück. Er ist – das gibt es wohl – zugleich neugierig auf die Welt und introvertiert: er bezieht die Umgebung immer auf sich, lässt sie durch sich hindurchgehen (oder an sich abprallen), anstatt selber durch sie hindurchzugehen.“24
Diese Haltung wurde den jungen Filmemachern mit ihren Erstlingsfilmen von wütenden Kritikern, die eine „Zeitkritik“ einforderten, als Stillosigkeit zum Vorwurf gemacht. Uwe Nettelbeck sagte in seiner vernichtenden Kritik zu Schonzeit für Füchse über den Regisseur: „… er spricht wie ein Spießer über Spießer und verdoppelt so, was er anzugreifen vorgibt (…) Nur Filme, denen man ansieht, dass sie einen Autor haben, der sich etwas gedacht hat, können dazu anregen, dass die, die sie sehen, sich etwas dabei denken …“25
Der „denkende“ Regisseur – in den sechziger Jahren in den Köpfen allgegenwärtig – war Godard. Aus heutiger Sicht ist der Vorwurf Nettelbecks insofern zu relativieren, als die genaue Beobachtung alle die neuen Filme auszeichnet, sie ihre Kamera ebenso „wirklichkeitshungrig“ auf ihre Welt richten, wie das Patalas über Godard gesagt hat.26 Sicher, wenn Schamoni in Schonzeit für Füchse auf Godard verweist, schließt er nicht an dessen Umgang mit dem Medium und der Filmgeschichte an, sondern zitiert bloß Godard selbst als Namen herbei, aber Deutschland hatte andere Wirklichkeiten als Frankreich, es konnte nicht das Gleiche entstehen, schon gar nicht zur selben Zeit.
Und dennoch ist die Situation in Frankreich und Deutschland, so nahe an 1968, ähnlich unentschlossen. Eine deutsche Kritikerin sagt über Godards Masculin-Féminin: „Die Kanten der Generationen scheuern sich nicht mehr. Vorbei die Zeit, in der man noch Konflikte hatte und die Chance, darüber zu reden. (…) Er [Godard] setzt aus Gesprächen eine Oberfläche zusammen, die feine freie Flipper-Existenz, die aber in Wirklichkeit schon von allen Seiten wacker bestellt wird.“27 Das ließe sich auch über einen Film wie Schonzeit für Füchse sagen. Der Widerstand gegen den äußeren Druck erzeugt in der feinen freien Flipper-Existenz scheinbar unmotiviert Gewalt. In Masculin-Féminin zündet sich einer selbst an; in Tätowierung erschießt ein Sechzehnjähriger seinen Wohltäter. Christoph Wackernagel, der diesen Jungen spielt, geriet zehn Jahre später durch sein politisches Engagement an die RAF, die ihm reale politische Motive für den Widerstand anbieten konnte. Wackernagel wurde 1977 wegen dreifachen Mordversuchs an Polizisten und Mitgliedschaft bei der RAF zu 15 Jahren Freiheitsentzug verurteilt.
Die Liebe erlöst keinen mehr wie noch in Das Brot der frühen Jahre, Romantiker sind die jungen Männer jedoch geblieben; die Verweigerung des Status quo hat keine politische Dimension, weder vor noch nach 1968. Es gab eine Methode, Distanz zur Gesellschaft herzustellen, Vesely, Khittl und Godard hatten sie vorgeführt: die räumliche Distanz und die Distanz des Kinos. Die Prallelstraßen zur deutschen Wirklichkeit lagen offen da. Es brauchte nur eines Gefährts. Obwohl das Auto keine neue Erfindung war, erregte es Anfang der sechziger Jahre höchste Aufmerksamkeit. Es bedeutete Bewegung, eine Möglichkeit, den Ort des Stillstands zu verlassen und die „Sinnwidrigkeit von provinziellen Begrenzungen“ (Edgar Reitz) aufzuheben. So unterschiedliche Filmemacher wie Hansjürgen Pohland, Reitz, Vesely, Kristl, Senft und Kluge drehten Kurzfilme über Autos und die Beschleunigung. Sie schwankten zwischen Faszination und Skepsis. Die Technik birgt Gefahren, in Veselys Autobahn (1957) liegt über der rasenden Fahrt ein schriller Ton, als wäre es eine Szene aus Jonas. In Haro Senfts Auto Auto (1964) werden aus der Sprache der Menschen Autogeräusche. Kluge zweifelt in Rennen (1961) den Sieg als den Sinn des Rennens an, wenn er zeigt, wie der Sieger von Politikern (Franz Josef Strauß) und Militärs vereinnahmt wird. Die technischen Fortbewegungsmittel sind für Reitz die Kamera und der Schneidetisch selbst. Für Geschwindigkeit (1962/63) erstellte er Konstruktionspläne in Form von Partituren und ließ die Fahrt- und Kamerabewegungen höchst elegant zu einer Bildmusik verschmelzen. Den Spielfilmen ging es nicht um Abstraktion, sondern um den Blick nach draußen während langer Autofahrten, die es in allen Filmen gab, selbst bei Straub. Nicht Schönheit wurde gesucht, sondern die banale Wirklichkeit. Durch die Bewegung war der Betrachter immer vor Ort, ohne ankommen zu müssen.
Der Sehnsuchtsort schlechthin, bar aller politischen Bedeutung, très loin de Vietnam, war Amerika, das Land, das man durch seine Filme und Musik auswendig kannte, der Kontinent Hollywood. Handke und Wenders drehten 1969 für den Hessischen Rundfunk 3 amerikanische LP’s. Sie reden über amerikanische Musik während einer langen Fahrt aus der Stadt hinaus, die vor der weißen Leinwand eines Autokinos endet. In der dritten LP der Creedence Clearwater Revival fährt der Greyhound Bus, hinter dem der „Held“ in Alice in den Städten herfahren wird. Die möglichen Filme sind schon im Kopf. Der Titelheld von Wenders Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, in der tiefsten österreichischen Provinz ebenso verloren unterwegs wie ein anderer Mann in Paris, Texas, hat amerikanische Münzen in der Tasche und geht in Wien in ein Kino, das „Cinema“ heißt, aber nur im Film existiert, und sieht einen Rennfahrerfilm, Hawks’ Red Line 7000. Die Geschichten von kleinen Gangstern und Kriminellen, die ihre kleine Rebellion zelebrieren, mussten nur mehr in deutsche Stadtlandschaften verpflanzt werden: von Fassbinder in Liebe ist kälter als der Tod und Wenders in Alabama: 2000 Light Years und Summer in the City.
Klaus Lemke kam als erster nach Übersee. Handke sagte über das Resultat: „48 Stunden bis Acapulco ist ein ernster und wichtiger Film“.28 Warum? Weil seine Wirklichkeit die des Kinos ist. „Nur solche Filme kritisieren nicht verlogen mit Bildern die Wirklichkeit, sondern kritisieren mit Bildern die Bilder, die bisher von der Wirklichkeit gemacht wurden. Nur diese Filme, dadurch, dass sie nicht kritisch gegenüber der ‚Gesellschaft’ sind, sondern gegen sich als Film, machen auch kritisch, nicht nur gegenüber der mit arglosen Kritikmethoden strapazierten ‚Gesellschaft’. Nur diese Filme sind ernsthaft.“29 Handke fand an Lemkes Film nur störend, wenn dieser mit „neuartigen“ Bildern die Natürlichkeit des Künstlichen, wie sie der amerikanische Film zur Meisterschaft gebracht hat, verfehlt. Der „Held“ des Films lässt auf der Straße sein Auto leer zurück, die Tür weit offen. Handke beanstandete, dass „diese Autotür offensichtlich gezeigt wurde“. Die Wirklichkeit, der sich der deutsche Film endlich zu stellen versuchte, war kompliziert. Trügerisch auch. Handke hielt 48 Stunden bis Acapulco für einen ernsten und wichtigen Film, weil er, anders als etwa Abschied von gestern oder Tätowierung, die „die übliche Verfilmungsweisen der Welt als wahre Bilder der Welt selber ausgeben“, sich der Künstlichkeit der Bilder bewusst sei, übersah aber deren Klischeehaftigkeit und die Banalität des Zusammenhangs.
Handke verwahrte sich dagegen, von der Außenwelt der Bilder als Oberfläche zu sprechen, denn diese lässt ein „dahinter“ vermuten, das eine „Tiefe“ suggeriert – etwa „die Abwesenheit Gottes“ -, eine hoffnungslos literarische Kategorie, die nur mehr bei literarischen Filmern wie Ingmar Bergman und Michelangelo Antonioni herumspuke.30 Handke sprach von Bildern und Bildzeichen. Ein Film wie Winchester 73 von Anthony Mann zeige ihm nicht die Wirklichkeit, wie sie ist, „nach diesem Film hat sich mir viel von der Wirklichkeit so gezeigt, wie der Film war. Die Wirklichkeit hat sich dem Film angepasst. Und mit jedem Film, in dem ich so ein Bildzeichen finde, wird mir die Wirklichkeit erlebbarer. Sie wird offener; genauer; beziehungsvoller; sie wird jedes Mal, wenn man so sagen kann, möglicher.“
Möglichkeiten bedeuten Zukunft. Dafür stand Amerika. In Handkes Der kurze Brief zum langen Abschied (1972) ist der „Held“ dort angekommen. „Du bist hierhergekommen wie mit einer Zeitmaschine, nicht um den Ort zu wechseln, sondern um in die Zukunft zu fahren.“31 Raum und Zeit öffnen sich und geben dem Individuum seine Freiheit, „als ob die Welt eine Bescherung sei, eigens für dich.“ Das Subjekt nimmt die „Bescherung“ freudig an und transformiert sie in Sprache. Der Autor erzeugt, in Umkehrung des Titels eines Handke-Textes von 1969, die Außenwelt der Innenwelt der Außenwelt. Im Durchgang durch die Innenwelt kommt die Außenwelt „wesentlich“ verändert wieder zum Vorschein. Diese Transformierung und Spiegelung kann mehrmals hin und her gehen. Der „Held“ in Wenders’ Alice in den Städten sitzt „under the boardwalk“ und betrachtet die Polaroids, die er zuvor gemacht hat. Er schafft Distanz zu dem Gesehenen und überprüft seine Wahrnehmung. (Der Zuseher muss die Bilder daher auch nicht sehen, er weiß ja auch nicht, was der „Held“ gesehen hat, er bekommt das Resultat, den Film, vorgeführt.) Bei Handke heißt es: „Du lässt dir Erfahrungen vorführen, ohne dich hineinzuverwickeln.“ Und: „Kaum verstricke ich mich in etwas, schon formuliere ich es mir und trete daraus zurück …“32 Wenders gelang es in Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, an Handkes Sprache vorbei Bilder zu „formulieren“ und, anders als Vesely 1977/78 bei Der kurze Brief zum langen Abschied, eine „Literaturverfilmung“ zu vermeiden. Was Handke als Chronik in der Sprache festhält, findet Wenders anders oder ähnlich in Bildern. Wie gut ihm das gelingt, zeigt sich dann, wenn er Handkes Worte direkt als Dialog verwendet und die Worte sich spreizen und den Bildern den Platz streitig machen. Vesely scheiterte daran, dass er Handkes Sprache „wörtlich“ nahm. Das tat in gewisser Weise auch Handke selbst bei seiner Verfilmung von Die linkshändige Frau (1977), obwohl er an Wenders’ „amerikanische“ Bildwerdungen anzuknüpfen versuchte.
Die Amerika-Jahre des deutschen Films waren ein Exerzitium in Wahrnehmung und Sprachfindung. Amerika diente als ein Vehikel wie das Auto, das nach langer Fahrt beschädigt zurückgelassen wird. Die Ahnung, dass das Land die Erwartungen, sprich: Projektionen im Kopf, nicht erfüllen kann, war vom Anfang an da. Schon in den Auto-Filmen ist das Unglück eingebaut. Rennen enden auch tödlich. Alice in den Städten und Herzogs Stroszek bringen dann die Bestätigung, Helden können scheitern, auch oder gerade in Amerika. Dem einen gelingt die Rückkehr. Zuerst Amsterdam. Dann Wuppertal. „Ausgerechnet Wuppertal“. Immerhin noch ein Konzert mit Chuck Berry. No Particular Place to Go. Dann München. Es ist ein Versöhnungsweg.
Mit Katzelmacher, Alice in den Städten und Stroszek erreichten Fassbinder, Wenders und Herzog ein Äquilibrium der Wirklichkeiten, der filmischen wie aller anderen, indem sie diese transzendierten; oder anders gesagt: sie fuhren erstmals die Ernte ein.
1 Joe Hembus: Der deutsche Film kann gar nicht besser sein. Bremen 1961. S. 11.
2 Vesely über den Misserfolg des Films: „Dabei spielte aber auch die Presse eine Rolle. Als dieser Film ins Kino gelangte, kam auch das Manifest von Oberhausen heraus. Und in dem Augenblick war er ein Politikum. Plötzlich stand der Film für Oberhausen. Und als solchen haben sie ihn natürlich verdonnert. Wenn das ein kleiner Film gewesen wäre, der ohne viel Drumherum gestartet worden wäre, dann hätten wir möglicherweise einen Erfolg gehabt.“ (Susanne Fuhrmann u. Heinrich Lewinski: >Poesie ist das, was bleibt. Der Filmregisseur Herbert Vesely im Gespräch<, in: filmwärts Nr. 27, Sept. 1993. S. 7).
3 Hans Scheugl: Erweitertes Kino. Die Wiener Filme der 60er Jahre. Wien 2002. S. 13.
4 Jean Cocteau: Gespräche über den Film. Eßlingen 1954. S. 52.
5 Herbert Vesely: >Zwischen den Zeilen meiner Arbeit<. Presseheft Filmaufbau GmbH. Göttingen 1955; neu veröffentlicht in: nicht mehr fliehen. Das Kino der Ära Adenauer, Teil 3, hg.v. Münchner Stadtmuseum/Filmmuseum als Film 82/1, S. 186 – 188.
6 Enno Patalas: >Strukturelle Analyse< und >Stilistische Analyse<. Presseheft a.a.O., und: nicht mehr fliehen. Das Kino der Ära Adenauer, a.a.O., Teil 3, S. 189-195.
7 Vesely in filmwärts, a.a.O., S. 7.
8 Gespräch des Autors mit Leo Tichat am 5.5.2006.
9 Vesely 1985, zit. in: Norbert Jürgen Schneider: Handbuch Filmmusik. Musikdramaturgie im Neuen Deutschen Film. München 1986, S. 248.
10 Gespräch des Autors mit Ronald Martini am 20.5.2006.
Der Film wurde 1961 beendet und ab 1962 gelegentlich in nichtöffentlichen Aufführungen gezeigt. Er nahm 1963/64 am 3. Experimentalfilm-Festival in Knokke teil. In Deutschland wurde er erst im Mai 1966 öffentlich in einem Münchner Kino gezeigt. Verleih hatte er keinen. Der Anfang des Films wurde 1963 leicht verändert.
Dass aus einem als Dokumentarfilm angefangenen Projekt etwas anderes wird, ist in der Filmgeschichte nichts Ungewöhnliches. Andere Beispiele sind Sonne halt! von Ferry Radax, nicht mehr fliehen von Vesely und Lebenszeichen von Werner Herzog.
11 Helmut Färber: >Die Parallelstraße<, in: Filmkritik 7/1966, S. 384.
12 Wilfried Berghahn: >Ansichten einer Gruppe (Die „Münchner Schule“)<, in: Filmkritik 4/1963, S. 156.
13 Die Parallelstraße wurde deshalb von Scheugl/Schmidt jr. in der Subgeschichte des Films (1974) sehr barsch abgefertigt. Patalas war umgekehrt froh, dass ein sechsstündiger Film über einen „Schläfer“ – Warhols Sleep – das Festival nicht rechtzeitig erreichte.
14 Ernst Wendt: >Vlado K. haut das Kino kaputt<, in: Film 1/1967, S. 10 f.
15 Ernst Schmidt: >Gespräch mit Vlado Kristl<, in: Caligari Nr. 1, Wien 1964, S. 13. Kristls Drehbuchentwurf S.12.
16 Ernst Schmidt und Peter Weibel: >Die Erben der Marx Brothers. Die Tradition der Groteske<. In: Film 1966, hg. v. d. Zeitschrift Film, Velber b. Hannover, S. 119.
17 Helmut Färber: >Der Damm<, in: Filmkritik 7/1965, S. 387.
18 Zit. von Yaak Karsunke: >Der unkonsumierbare Film< in: Film 3/1966, S. 13.
19 H. M. Enzensberger: >Einzelheiten<. Frankfurt/M 1962, S. 309 ff.
Enzensberger läuft mit seiner sonst präzisen Analyse der Rolle der Avantgarde sofort auf Grund, wenn er sich der Kunst seiner Zeit kritisch nähert und mit seinem Unverständnis das von ihm proklamierte Ende der Avantgarde ungewollt widerruft. Die ästhetische Linke traf sich da mit der politischen Rechten. Die CDU verlangt als Wahlkampfparole „Keine Experimente“.
20 Alexander von Cube: >Wirklich wie im Film oder: Ist die Zukunft des jungen deutschen Films schon Vergangenheit?<, in: Film 8/1965, S. 30 ff.
21 Helmut Färber u. Wilhelm Roth: >Revolution im Privaten. Gespräch mit Rainer Werner Fassbinder< in: Filmkritik 8/1969, S. 471-476.
22 Rolf Becker: >Versuche, wesentlich zu werden<, in: Der Monat Nr. 7, 1959, und: nicht mehr fliehen. Das Kino der Ära Adenauer, a.a.O., Teil 1, Film 79/1, S. 47 ff.
Elfriede Jelinek zum gleichen Thema aus einem anderen Anlass (Peter Handke und der Heine-Preis 2006): „Der Dichter hat, was er zu sagen hat, zu sagen, weil es ihm notwendig ist, es zu sagen, aber er hat nicht das Notwendige zu sagen, sonst hätte er gar nichts mehr zu sagen. Sonst hätte er nur noch zu erledigen, was erledigt werden muss. Das ist zu wenig.“ http://ourworld.compuserve.com/homepages/elfriede
23 Reinold E. Thiel: >Schonzeit für Füchse<, in: Filmkritik 8/1966, S. 443.
24 Ernst Wendt: >Der Senfte Lauf<, in: Film 6/1967, S. 18.
25 Uwe Nettelbeck: >Schonzeit für Füchse<, in: Filmkritik 8/1966, S. 445 f.
26 Enno Patalas: >Außer Atem<, in: Filmkritik 6/1960.
27 Ilona Perl: >Godard oder: Aus dem Leben der Zwanzigjährigen<, in: Film 7/1966, S. 13.
28 Peter Handke: >Ein verzweifelter Film<, in: Film 2/1968, S. 10.
29 Ebd.
30 Peter Handke: >Abgedankte Metaphern<, in: Film 11/1967, S. 10.
31 Peter Handke: Der kurze Brief zum langen Abschied. Frankfurt/M. 1972, S. 80.
32 Ebd., S. 97 und 98.
TEXTE ZU EINZELNEN FILMEN
An diesen Abenden 1951/52
Herbert Vesely
nicht mehr fliehen 1955
Herbert Vesely
Herbert Vesely war zwanzig, als er 1951 seinen ersten Film drehte. Und die Kinder spielen so gern Soldaten steht zusammen mit Der Rabe von Kurt Steinwendner aus dem gleichen Jahr am Beginn des österreichischen Avantgardefilms. Ein schwieriger Anfang, da bis zu diesem Zeitpunkt keinerlei Vorbilder aus der Zeit vor dem Krieg eine österreichische Filmleinwand erreicht hatten und künstlerische Anregungen im Spielfilm und in der Literatur gesucht werden mussten. Vesely machte 1948 Matura und studierte fünf Semester Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft an der Universität Wien. Durch den aus Dänemark stammenden Professor Boerge von der Theaterwissenschaft kam er mit dem Film in Berührung. Dreyers Vampyr hat wohl über diesen Weg in Veselys zweiten Film, An diesen Abenden, Eingang gefunden. Diente für den ersten Film Kafka als Ausgangspunkt, bildete für den zweiten ein Gedicht von Georg Trakl die Vorlage. Die Schicksalhaftigkeit, die beide Filme bestimmt, hat ihre Herkunft in einer unbestimmten Vergangenheit, gegen die sich die Gestalten der Filme – in dem ersten ist es ein Soldat – nicht wehren können. In einer verschlüsselten Form kommt in diesen Filmen das Thema des jungen Menschen, der seine Bedürfnisse und Rechte in einer als feindlich empfundenen Umwelt nicht erfüllt bekommt, zum Ausdruck. In den sechziger Jahren sollte der Konflikt in verschiedenen Ausformungen im deutschen Spielfilm einen realen Hintergrund erhalten.
Unter den vielen Filmen über Außenseiter, die noch kommen sollten, ist An diesen Abenden insofern auffällig, als es sich um eine Frau handelt. Die Magd, die Liebe sucht und durch Neid und Engstirnigkeit der Bewohner eines Dorfes zu deren Opfer wird, ist selbst in ihrem Scheitern stark. Das wird umso deutlicher durch die Männer, die ärmliche Wichte sind, die sich verdrücken und beten, während die Frau ihre vermeintliche Schuld auf sich nimmt. (Ihr realistisches Pedant wird sie erst 1966 in der Figur der Anita G. in Alexander Kluges Abschied von gestern finden.)
Auch in nicht mehr fliehen ist die Hauptfigur eine Frau. Ihr Name ist Sapphire. In ihrer kühlen Königinnenhaftigkeit erinnert sie an Maria Casarès in ihrer Rolle des weiblichen Todes in Cocteaus Orphée, ein Film, von dem Vesely stark beeinflusst war. Sie wird als „Madame“ angesprochen und spricht französisch, obwohl die Schauspielerin keine Französin war. Der Mann, der sie auf ihrer Flucht vor einer unsichtbaren Gefahr begleitet, ist ihr Chauffeur und Diener, der ihr Gepäck schleppen muss. Ins Absurde gehende Abhängigkeiten wie bei Beckett und Genet ersetzen an dem Wüstenort, der als Null-Ort gekennzeichnet ist und an dem die Flucht endet, jede weitere Entwicklung. In dem In-sich-Kreisen wird aus der Indifferenz heraus alles möglich, auch ein Mord. Die Feindseligkeit der Welt nimmt von den Menschen Besitz und macht sie fremd und grausam. Camus wird hier direkt angesprochen. Es sind die letzten Stunden vor der finalen Katastrophe. Vesely verwendete für sie die Tarnbezeichnungen, die für den Atombombentest auf dem Bikini-Atoll gebraucht wurden. Das Unternehmen hieß „Kreuzweg“, das Steuerungsschiff „Abraham“. „Kreuzweg“ änderte er in „Null“.
Das Brot der frühen Jahre 1961/62
Herbert Vesely
Walter Fendrich ist ein Ost-Flüchtling, 26 Jahre alt, vor fünf Jahren nach West-Berlin gekommen, wo er als Waschmaschinentechniker arbeitet und mit der Tochter des Chefs verlobt ist. Und dann wird alles anders durch eine junge Frau, die ihm sein Vater in einem Brief vom Bahnhof abzuholen ersucht. Hedwig kommt aus seinem Heimatort und erinnert ihn an die existenzielle Not seiner Kindheit, die er in dem aufblühenden Wohlstand des Westens zu vergessen begonnen hat. Das Leben, das plötzlich zu einem Stillstand kommt, glaubt er nun als nicht seines zu erkennen. Fast wäre er in ein anderes Leben eingestiegen wie man aus Versehen in den falschen Zug steigt, heißt es bei Böll, dessen Novelle Vesely als präzises Ausgangsmaterial für seine nervösen Zeitbrüche verwendet, in denen sich die mühsame Herauslösung des jungen Mannes aus dem sich bereits verfestigenden Leben vollzieht.
Das Brot der frühen Jahre war der Frontfilm der rebellierenden „Oberhausener“, die „Papas Kino“ 1962 für tot erklärten. Der Produzent, der Regisseur, der Kameramann und der Hauptdarsteller zählten zu den Verfassern und Unterzeichnern des Manifests. Entsprechend groß war der Druck, als der Film unmittelbar nach dem Oberhausener Eklat nach Cannes eingeladen wurde. Seine antipsychologische, dem nouveau roman verwandte Umkreisung eines Themas und seine fotografische Auffälligkeit entsprachen nicht den Erwartungen, der Film war ein Misserfolg. Bemerkenswert ist die Heftigkeit, mit der dem Film in Deutschland begegnet wurde. Mit „Oberhausen“ ist sie nicht alleine zu erklären. Ein kleiner Hinweis von Leo Tichat, dem Co-Drehbuchautor des Films, könnte als Fingerzeig dafür dienen, welche anderen Erwartungen der Film nicht erfüllte. Tichat erzählt (s. Fn. 8 des Haupttextes), dass die Idee zu dem Film von dem Kameramann Wolf Wirth ausging, der etwas Ähnliches wie Amore in Città machen wollte. Dieser Episodenfilm von 1953, an dem u.a. Cesare Zavattini, Fellini und Antonioni mitwirkten, ist ein Beispiel des in Wandlung begriffenen italienischen Neorealismus. Als sich Vesely um 1959 oder 1960 für Bölls Erzählung von 1955 entschied, muss diese ursprüngliche Idee längst in den Hintergrund getreten sein, denn schon diese Vorlage war davon weit entfernt. Nicht nur dem Film, sondern auch dem Buch wurde von der Filmkritik vorgeworfen, den politischen und sozialen Hintergrund der Geschichte weitgehend zu ignorieren, also nicht jene Eigenschaften zu besitzen, die den Neorealismus ausgezeichnet hatten. Stattdessen unternahm der Film, wie der Rezensent der „Filmkritik“ (6/1962) schrieb, den Versuch, „den deutschen Film im Parforce-Ritt zu revolutionieren“. Ein solches die formalen Mittel betonendes Vorpreschen, meinte er, konnte nicht gut gehen; Deutschland litt daran, dass jene Epoche, für die ein Film wie Amore in Città stand, als Grundlage fehlte. Die Kritik endet denn auch mit der folgenden Erklärung für Veselys vermeintliches Scheitern: „Vielleicht liegt es einfach daran, daß eine ‚Neue Welle’ eben eine alte voraussetzt. Und wo hätten wir diese?“
Das Brot der frühen Jahre ist nicht nur ein zu Unrecht missachteter Film, sondern einer der interessantesten seiner Zeit.
Menschen im Espresso 1958
Herbert Vesely
Die Stadt 1960
Herbert Vesely
Arme Leute 1963
Vlado Kristl
Machorka-Muff 1962/63
Jean-Marie Straub
Vesely nennt Menschen im Espresso „eine Studie“. Das Leben in den Städten wird in seinen Veränderungen „studiert“, nicht selten auch kommentiert. Es liegt etwas Naives in diesem geraden Hinschauen, auch eine fröhliche Unbefangenheit, die bewirkt, dass sich das Zeitgefühl unverstellt mitteilt. Menschen im Espresso ist ein Essay über die Modernisierung des Lebens in München, seine Italienisierung – Espressobar und Tische im Freien statt Hofbräuhaus. Enno Patalas sitzt mit den Mitarbeitern der „Filmkritik“ in einer fröhlichen Runde. Die Stadt, zwei Jahre später, ist Berlin. Vorherrschend ist eine stark fotografische Stilisierung, die der neuen Magnum-Fotografie entspricht. Glas- und Betonfassaden zu rhythmischer Musik, die zu dem fertigen Film erst dazukomponiert wurde. Auch hier berührt zu sehen, was einmal neu und herzeigens- und hörenswert war: Reklamen, Straßenbahnen, Kinos, Stadtgeräusche, ein Wetterbericht im Radio, urbanes Leben eben. Kleine inszenierte Szenen dienen Vesely als Vorübungen zu Das Brot der frühen Jahre. Wochenschauartig ein Konzert von Bill Haley und die Randale danach. Wolf Wirths Kameraarbeit als lustvolle Bildfindungen.
Ganz anders der Realismus von Kristls Arme Leute. Kristl zeigt die unerledigte Rückseite der Städte. Das Einverständnis der Leute in seiner Gemeinschaft ist nicht ungezwungen, sondern zwanghaft. Sie sind nicht in ihrer Anonymität sorglos aufgehoben, sondern gesellschaftlich zuordenbar. Eine große Gruppe von Männern in weißen Hemden und schwarzen Hosen – das Kollektiv, die Masse – verfolgt einen einzelnen Mann (Kristl), der einen Topf am Fuß angebunden hat und flüchtet. Die Männer treten mit Geschrei und revolutionärem Pathos auf, Frauen sind keine dabei. Ein reicher Autofahrer kreuzt kurz ihren Weg. Der Mann mit dem Topf kann listig entkommen, das Kollektiv aber bleibt liegen wie auf dem Schlachtfeld. Zu hören sind nur Tonfetzen, sonst bleibt die Jagd durch eine ruinenhafte Leere stumm.
Liefe Straubs Machorka-Muff ohne den inneren Monolog der titelgebenden Hauptfigur, den Straub aus Bölls Erzählung übernommen hat, wäre unter anderem folgendes zu erkennen: ein Mann mittleren Alters schläft, träumt, rasiert sich am Morgen, trägt beim Frühstück einen grauen Anzug, trifft sich mit zwei Männern, wandert durch die Stadt (es ist Bonn), betrachtet Auslagen, geht über Plätze, lehnt an der Brüstung am Fluss (es der Rhein), steigt zu einer jungen Frau in deren weißes Cabriolet, nimmt an einer Grundsteinlegung teil usw. Einer der Menschen in der Stadt also, deutscher Alltag, könnte man meinen, kurz und bündig hingestellt. Dem Mann sieht man nicht an, dass er Oberst ist und zum Brigadegeneral ernannt wird und zu jenen Nazis gehört, die den inzwischen „diffamierten“ militärischen Geist zu restaurieren vermögen. Die Grundsteinlegung gilt der „Akademie für militärische Erinnerung“, die den Namen des Mannes wird tragen dürfen, der seine Tapferkeit dadurch bewiesen hatte, dass in seiner Armee 14.700 Mann gefallen sind – und nicht weniger. Straub verzichtet auf Bölls Ironie (sie liegt ihm auch nicht) und enthüllt seinen General, indem er ihn in seiner Alltäglichkeit zeigt, als wäre sein Wirken kein anderes als die Arbeit des Kellners, der ihn bedient, die er ebenso gewissenhaft in ihrer Nebensächlichkeit vorführt.
Machorka sah in seinem Traum drei Gestalten auf Sockeln, von denen die weißen Hüllen abfielen und die sich in ihrer Generalsuniform vor ihm verneigten.
Die Parallelstraße 1961/62
Ferdinand Khittl
Ein junges Team, das sich über die Herstellung von Industriefilmen zusammengefunden hat, beschließt mit dem Segen und Geld des Chefs der Filmfirma, der der Vater des Kameramanns ist, aus dem dokumentarischen Material, das es von Reisen in ferne Länder mitgebracht hat, einen künstlerisch ambitionierten und kommerziell höchst ungesicherten Film zu machen. Solche Wagnisse wurden damals von Produzenten wie Martini oder Norbert Handwerk als „berufliche Verpflichtung“ gesehen. Ein Autorenfilm im herkömmlichen Sinn war das nicht – mit ein Grund dafür, dass die deutsche Kritik sehr ungnädig mit dem Ergebnis umging.
Ein „Gremium“ von fünf Männern soll in wechselnder Besetzung drei Nächte lang unter der Anleitung eines „Protokollführers“ die 308 filmischen Dokumente aus dem Leben einer „fraglichen Persönlichkeit“ in eine sinnvolle Ordnung bringen. Der Film zeigt das Ende der dritten Nacht und 16 der „Dokumente“. In der Rezeption, wie von den Autoren selbst, wurden die Absurdität dieser Aufgabe und das existenzielle Scheitern der Figuren, die in einem Raum wie auf einer abgedunkelten Bühne beisammensitzen, in den Vordergrund gestellt. Die „Dokumente“ wurden von den Kritikern als belanglos abgetan und ihre filmische Verarbeitung in keiner Weise gewürdigt. Heute kehrt sich der Blickwinkel um, sind es gerade diese absurden und poetischen Ausblicke in alle Weltgegenden, deren Parallelstraßen damals in keiner globalen, sondern noch rätselhaften Verbindung standen, die das Besondere des Films ausmachen. Auch scheint sich der Reiz der Bilder heute erst richtig zu entfalten. (Siehe die Farbfotos im Programmheft zur Viennale des Filmarchiv Austria.)
In Frankreich war das schon 1964 anders. Die beiden Kritiker der Zeitschrift Positif, die sich mit der Parallelstraße beschäftigten, waren sehr bewusst mit dem Surrealismus umgegangen, was sich in ihren Texten niederschlägt. (Dass diese Texte kaum weniger als die deutschen Kritiken ein Ablaufdatum haben, ist interessant festzustellen, schmälert aber nicht ihren Wert.)
Jean-Paul Torok schrieb: „Von seiner Weltreise, auf der er die entferntesten und verborgensten Spuren der menschlichen Karawane erforscht hat, hat Khittl Bilder voller Glanz und Geheimnis mitgebracht, deren absurde Perspektiven – jenseits jeder Unzufriedenheit – den unstillbaren Wunsch nach Erkenntnis hervorrufen. Sein Film lädt den Zuseher ein, sich in einem labyrinthischen Netz zu verlieren und sich auf einer imaginären, surrealistischen Ebene zu bewegen, um den Faden der Ariadne zu finden. Man wird sicherlich an L’année dernière à Marienbad denken, aber ein Marienbad ausgedehnt auf die Größe der Erde. Und abschließend, um Borges zu paraphrasieren, der in Khittl das getreueste Pendant im Film hat, ein Vorschlag: die Filme, alle Filme, die uns eine Bedeutung abverlangen, wären sie nicht Teil eines einzigen und stets unvollendeten Films, geschaffen von einem universellen und omnipräsenten Genie, einem rätselhaften und spöttischen Schöpfer von Erscheinungen und Träumen?“
Robert Benayoun schrieb: „Es sind Filme wie Die Parallelstraße, die dem zeitgenössischen Film seine intellektuelle Würde geben und den Adel einer wahren Funktion. Die Parallelstraße ist ein philosophischer Thriller, ein Western der Meditation, der uns für ein ganzes Jahr voll unvermeidlicher Manifestationen des Schwachsinns entschädigt.“
Autobahn 1957
Herbert Vesely
Rennen 1961
Alexander Kluge, Paul Kruntorad
Geschwindigkeit 1962/63
Edgar Reitz
Alabama: 2000 Ligth Years 1968/69
Wim Wenders
Der Bräutigam, die Komödiantin und der Zuhälter 1968
Jean-Marie Straub
3 amerikanische LP’s 1969
Wim Wenders
Das Auto war Symbol und Ausdruck eines neuen deutschen Selbstbewusstseins. Die filmische Auseinandersetzung damit zeigt unterschiedliche Ansätze. Vesely beginnt Autobahn mit einem Radfahrer, der von einer Autobahnbrücke auf den noch fast leeren Verkehrsweg schaut. In ihm symbolisiert sich die geänderte Geschwindigkeit. Mit dem Auto erweitern sich der räumliche Radius und der Handlungsraum des Films. Eine nächtliche Fahrt, ein Flirt von Auto zu Auto, ein Halt bei der Tankstelle, die Ahnung eines französischen Krimis, viele Jahre ehe sich deutsche Filmemacher wie ihre amerikanischen Vorbilder on the road begeben.
Das Auto schlechthin ist der Mercedes. Eine neue Klasse rückt ins Blickfeld, die Trümmerzeit wird zurückgelassen. Die neue Aristokratie kürt ihre Helden: die Rennfahrer, deren Denken, wie in Rennen behauptet wird, zu einer technischen Funktion wird, und die sich als Symbole des Sieges von denen, die Macht haben, vereinnahmen lassen.
Geschwindigkeit von Edgar Reitz ist sinnfälliger Ausdruck der Schönheit von Bewegung und Geschwindigkeit. Es ist der Triumph der (Film-)Technik über die Natur. In dem Presseheft der Produktionsfirma wird denn auch an die Futuristen erinnert, deren „Dekomposition der Wirklichkeit“ ein verändertes Wirklichkeitsbild entstehen ließ. Reitz verwendete ein „neues Kameraverfahren, das Aufnahmen mit wechselnder, genau bestimmbarer Frequenz gestattet, und zwei neue kopiertechnische Verfahren, bei denen aus einer chronologisch aufgenommenen Szene die einzelnen Bilder entweder nach periodischen oder nach statistischen (also zufälligen) Gesichtspunkten ausgewählt und neu zusammengesetzt werden, wodurch aus einem kontinuierlichen Vorgang ein diskontinuierlicher wird. Reitz hat für diesen Film auch eine partiturähnliche Anlage des Drehbuchs geschaffen, die alle filmischen Parameter exakt festlegt.“ (Presseheft). Die Geschwindigkeit steigert sich bis zu Verzerrung (durch anamorphotische Linsen) und Stillstand und einem Sichauflösen des Bildes im Weiß.
Der Film stand thematisch an einem Anfang, als in sich perfektes Konstrukt stand er formal an einem Ende. Kurt Kren hatte schon in den fünfziger Jahren durch den Kurzschnitt den Film, wie er sagte, auf die Geschwindigkeit eines Düsenjägers gebracht. Von Steine (1964/65), ein Film, der eine ähnliche Eleganz und Dynamik aufweist wie der Film von Reitz, bewegte sich Ernst Schmidt jr. schnell weg, da es ihm (wie Kren und anderen Filmemachern der 60er Jahre) fortan nicht um eine „Dekomposition der Wirklichkeit“ zu ihrer Perfektionierung und Verwertbarkeit (wie bei den Futuristen), also eine Ästhetisierung der Technik, sondern um die Destruktion ging, die das Fabrikat Wirklichkeit infrage stellte. Die Großzügigkeit des Produzenten von Geschwindigkeit hatte ja damit zu tun, dass seine Werbefilme, Sinnbilder der Affirmation, von den Erfindungen des Films profitieren konnten.
Für eine radikale Vereinfachung stehen die Autofahrten bei Wim Wenders und Jean-Marie Straub. Nächtliches Vorbeigleiten an hell erleuchteten Geschäftsauslagen bei Wenders, eine lange Fahrt durch eine Münchner Ausfallstraße bei Straub. Dort fallen weniger die dezent gekleideten Huren auf als die teuren Autos am Straßenrand. Wenders und Handke fahren in 3 amerikanische LP’s die gleiche Straße ab, diesmal in Farbe und bei besserem Licht, und „amerikanisieren“ sie durch die Musik. (Ein drittes Mal kommt im gleichen Jahr die Fahrt durch die Landsberger Straße in Fassbinders erstem Spielfilm Liebe ist kälter als der Tod vor.) Der „Held“ von Alabama in seinem Auto, begleitet von Jimmy Hendrix, ist unterwegs zu den Antipoden des Glücks. 2000 light years away.
Autorennen 1964/65
Vlado Kristl
Der Damm 1964/65
Vlado Kristl
„Ich hab’ kein Glück!“, sagt die clownhafte Figur, die Vlado Kristl in Der Damm spielt. So sehr er sich auch bemüht, das Mädchen im Rollstuhl, das er liebt, bevorzugt einen anderen, einen unansehnlichen Mann. Er weiß es schon zu Beginn, deshalb sagt er: „Ein Lied ist aus mir entronnen, doch es kam nicht zum Herz.“ Er ist ungeschickt genug, weiter zu machen. Wie Sisyphus schleppt er einen Felsbrocken durch die Gegend, nichts fügt sich zusammen, die Konfusion hält an. Der Slapstick von Autorennen, über den man lachen kann, weicht einer Melancholie, die allerdings nicht die nötige Zeit hat sich auszubreiten, da die Geschichte aus optischen und akustischen Bruchstücken besteht, die so tun, als gehörten sie zu einem lustigen Spiel. Der Mann und die Kamera stehen immer ein wenig daneben. „Da! Ein Schabernack!“, sagt er, weil ihm ein Stein nachgeworfen wird. Zur Sprache zu kommen („Sag’n Sie!“), führt zu Ergebnissen wie bei Ernst Jandl. Die Kamera liefert klare Bilder, aber der Bildausschnitt ist daneben. Gesichter sind angeschnitten wie die Töne zerrissen. Der Mann in der Glasvitrine ist auch daneben, er kommt im Jahr darauf in Alphaville als Frau wieder. Diesmal nackt.
Der Bezug zu Jandl kommt nicht von ungefähr. Franz Mon, wie Jandl Vertreter der Konkreten Dichtung und zusammen mit diesem Verlagsgründer, gab 1960 die Anthologie Movens. Dokumente und Analysen zur Dichtung, bildenden Kunst, Musik, Architektur heraus. Hans Magnus Enzensberger hob in Die Aporien der Avantgarde (s. Fn. 19 im Haupttext) folgende in der Anthologie gegebenen Charakteristika des Tachismus, der Konkreten Poesie und anderer Künste hervor: Improvisation, Zufall, Ungenauigkeitmoment, Austauschbarkeit, Unbestimmtheit, Leere. Damit lässt sich auch Kristls Der Damm charakterisieren. Kristl gelang es, unzugehörig wie er immer sein wollte, literarischen Vergleichen auszuweichen. Er verweigerte sich mit Der Damm inhaltlicher und selbst metaphorischer Konkretisierung (wie in Arme Leute) und zugleich den seriellen und sonstigen Konstruktionen, die die Konkrete Poesie organisierten und als Bauweise dem Verständnis ein Gedankengerüst zur Verfügung stellten. Der Titel Movens verweist darauf, dass es in der Kunst eine strukturelle Bewegung gibt, die ihre Energie nicht nach außen lenkt, sondern innen wirksam wird. Kristls Autorennen, sein groteskes Vermurksen jeden zielgerichteten Aufwandes, steht mit Der Damm ein Film zur Seite, der zu dem gleichen Ergebnis ohne Auto und Rennstrecke und stattdessen mit struktureller Anarchie gelangt.
Schonzeit für Füchse 1965/66
Peter Schamoni
Christian Doermer, der Aussteiger in Veselys Das Brot der frühen Jahre, ist hier als Viktor ein Gefangener seiner großbürgerlichen Herkunft, die ihm eine gewisse „Schonzeit“ gewährt, ehe auch er gezwungen sein wird, etwas Ordentliches anzufangen. Er will nach Australien „davonkommen“ und dort eine Lizenz für Krokodiljagd beantragen. Mehr Romantik ist nicht. Sein Jugendfreund, der mit seiner ungeliebten Arbeit als Journalist und einer ungeliebten Freundin festsitzt, wird weder mitkommen noch wie bei Böll durch die Liebe erlöst werden. Die jungen Müßiggänger hätten wohl gerne die Leichtigkeit, mit der ihre französischen Zeitgenossen (bei Chabrol) Paris unsicher machen, während sie in ihrer deutschen Provinzialität gefangen und von der Elterngeneration an ihrem Platz gehalten werden. Sie wissen, wie gefährdet sie sind, Viktor hat seit Jahren Magenprobleme. „Die hier haben einen längeren Atem als du“, warnt er den anderen. Dabei sind es keine alten Nazis, die (wie bei Böll und Straub) wieder an die Macht wollen, sondern bloß Männer, die der Kultur ihres Standes wieder zur Geltung verhelfen. Das ist sich die deutsche Wohlstandsgesellschaft ohnehin schuldig. Erfolg zeigt sich. In Restaurants, die Schnecken auf der Speiskarte haben, kommen die Jungen ohne Krawatte nicht hinein.
Das zähe Fortdauern der Vergangenheit nimmt bei den Kleinbürgern, die nicht auf die Treibjagd gehen, aber Bienen züchten, andere Formen an. „Trinken wir auf die alten Zeiten, als unsere Männer noch da waren“, sagt die Mutter der Freundin des Journalisten und holt den Orden des Vaters hervor, um ihn dem jungen Mann umzuhängen. Die Beziehung zu Frauen, deren Stimmung meist trüb ist, ist in allen Schichten gleich, deshalb verbindet die Freunde ihnen gegenüber auch eine Komplizenschaft. Viktors Geliebte ist ausgerechnet Balletteuse, als wäre sie ein Seitensprung seines Vaters. Das läuft alles irgendwie, anstrengen muss sich keiner, der Abschied von gestern dauert ewig.
Bei der Treibjagd führt einer der Herren im Trachtenanzug vor, wie eine angeschossene Ente mit ihrem eigenen Federkiel getötet wird. Ihr den Hals umzudrehen sei „schlechter Stil“. Schamoni, der die Rituale des guten und kultivierten Lebens mit Präzision zeigt, wählte für diesen Repräsentanten alten Stils Willy Birgel, der zu anderen Zeiten für Deutschland geritten war. Schamoni nimmt damit die Art vorweg, mit der Fassbinder die deutschen Altstars einzusetzen wusste. Auch die Phrasendrescherei, etwa bei der Taxifahrt, wird akzentuiert bei Fassbinder wiederkehren. Schamoni geht in seinem Erstlingswerk nicht die formalen Wagnisse ein, mit denen Fassbinder der deutschen Wirklichkeit zu Leibe rückte, bildet aber mit seinem nüchternen, oft dokumentarischen Realismus eine nicht unwichtige Zwischenstufe, die damals als Stillosigkeit gesehen und fälschlich dem vorangegangenen Kino der Väter zugeschlagen wurde.
Katzelmacher 1969
Rainer Werner Fassbinder
Irgendwo am Stadtrand von München eine Clique junger Leute. Sie hocken zusammen, gehen immer die gleichen Wege und reden dabei in ihrer kleinbürgerlichen Borniertheit über andere, wer mit wem und warum und welche Rolle das Geld dabei spielt. Die Gemeinheit, die in kurzen, geläufigen Sätzen zum Vorschein kommt, schafft eine eiskalte Distanz. Schlimm wird es erst, als Jorgos, der „Griech aus Griechenland“, gespielt von Fassbinder, auftaucht, weil er ein Zimmer braucht, und die Frauen scharf auf ihn sind und die Männer neidig, weil an ihm mehr dran sein soll als an ihnen. Nur Marie (Schygulla) hält zu ihm, weil sie ihn lieb findet, denn ihm fehlt die Sprache, die den anderen nichts als eine Waffe ist, und das ist das Beste an ihm.
Ein Jahr nach 1968 war die Frage nach dem politischen Auftrag der Wirklichkeitsdarstellung im Film, die schon die ganzen sechziger Jahre über auftauchte, aktueller denn je. Fassbinder beantwortete die Frage damit, dass er sich genau überlege, für welches Publikum er seine Filme mache, denn damit sei ihre gesellschaftliche Bedeutung festgelegt. Gleichzeitig entzog er sich damit jedem politischen Auftrag; die „Grundungerechtigkeit“, meinte er, zeige sich bereits im Privaten, das er in seinen Filmen in peinigender Genauigkeit offen legte. Das will er nicht nur in die Köpfe dringen lassen, wie Godard das macht, dessen Filme aber, meinte er, nicht wirklich das richtige Publikum erreichen, sondern auch in den Bauch. Über irgendwelche gesellschaftlichen Hintergründe direkt aufzuklären, mache keinen Sinn, „weil das die Leute dann wieder fressen“.
Das war Böll passiert, schon zur Zeit der Verfilmung von Das Brot der frühen Jahre wurde seine Bedeutung als geschmälert angesehen, weil eine restaurative Gesellschaft ihn als Alibi ihrer fortschrittlich-modernen Gesinnung missbrauche („Filmkritik“ 6/1962, S. 264). Die Kritiker hatten mit Godard Morgenluft gewittert und wollten vom deutschen Film mehr als die richtige Gesinnung. Nur war noch immer unklarer als das Was, das kommen sollte, das Wie. Fassbinder brachte das Kunststück zustande, Erwartungen zuwider zu laufen und doch sattes Kino zu machen.
Was Fassbinder über seinen ersten Film, Liebe ist kälter als der Tod, sagte, gilt auch für den nächsten, Katzelmacher. „Ich musste meinen Film einfach so machen, musste ihn stellenweise stilisieren und stellenweise nicht. Das schien mit die einzige Möglichkeit zu sein, den Film an die richtigen Leute zu bringen, von denen ich will, daß sie eine Wut kriegen, wie ich sie habe, und dann: schön musste er auch sein.“ („Film“ 8/1969, S. 20). Zu der Zeit „schönes“ Kino machen zu wollen, nicht einmal „gutes“, war mutig, die Kritiker haben es geschluckt. Sie waren einverstanden, schön als Alternative zu hergebrachten Normen sowohl ästhetisch als auch gesellschaftlich zu verstehen. „Schön ist für mich die antibürgerliche Haltung, schön ist eine anarchistische Gesellschaft“ („Film“ 12/1970, S. 20). Fassbinder hat keine anarchistischen Filme gemacht, das taten Vlado Kristl und andere, sondern die bürgerliche Haltung drastisch und damit kritisch vorgeführt. Das war die Grenze, die er sich setzte, und das war „schön“.
Fassbinder hatte sein Stück Katzelmacher auf dem antitheater inszeniert, den Film drehte er in 9 Tagen. Er widmete ihn Marieluise Fleißer, deren bayerische Syntax er für seine Kunstsprache verwendete. Die Balance aus formaler Distanz und performativer Nähe gibt Katzelmacher seine enorme Überzeugungskraft.
Alice in den Städten 1973/74
Wim Wenders
Alice in den Städten ist die Geschichte einer Identitätsfindung. Der deutsche Journalist Felix ist mit dem Auto in Amerika unterwegs, um eine Reportage über amerikanische Landschaften zu schreiben. Während Wenders und Handke wenige Jahre vorher in 3 amerikanische LPs wie Heimatlose im eigenen Land den Mythos Amerika beschworen und die Sehnsucht nach dem Original zum Ausdruck brachten, erzählt Alice von Abschied und Rückkehr. Felix, der wie ein Dandymatrose aussieht und in schäbigen Motels anlegt, ohne zu bleiben, sehr nüchtern alle die Zauberworte und -orte abhakt, die ihm die amerikanischen LPs als Poesie hatten erahnen lassen, ist mit Amerika fertig. Nicht einmal die Story, die er schreiben soll, kann er abliefern, nur eine Menge Polaroids bringt er nach New York mit, aber die interessieren den Verleger nicht. Die Bilder von der Reise haben nur für ihn Bedeutung, denn sie zeigen ihm, dass die Realität mit den Bildern im Kopf, mit denen er nach Amerika gekommen ist, nicht übereinstimmt. Zugleich dienen sie ihm als Beweis, sagt die Freundin in New York, dass er es war, der das gesehen hat, und dass es ihn wirklich gibt. Das Gefühl für sich selbst habe er längst verloren. Aus den Fotos zieht er seine Identität, aus der Wahrnehmung des Fremden entsteht ihm die Kontinuität seiner Existenz. Er ist so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass er gar nicht hört, wenn sie ihm sagt, er solle gehen.
Eine mit einer jungen Frau verbrachte Nacht und ein Fluglotsenstreik bewirken die Umkehr. Felix sieht sich genötigt, Alice, die neunjährige Tochter der Frau, die verschwunden ist, nach Amsterdam zu bringen. Die Frau taucht dort nicht wie versprochen auf und das ungleiche Paar muss, damit er wieder seine eigenen gewohnten Wege gehen kann, im Ruhrgebiet die Adresse der Großmutter ausfindig machen. Der einzige Anhaltspunkt ist ein Foto von dem Haus, in dem sie wohnte. Das Foto zwingt Felix, von der Beschäftigung mit sich selbst abzurücken und die Wahrnehmung auf eine deutsche Wirklichkeit zu richten, die er wieder zu sehen lernt. Wuppertal, ausgerechnet Wuppertal, das surreale Wuppertal mit seiner Schwebebahn. Er lernt zugleich, von sich abzusehen, was ihm schwer fällt, und Verantwortung zu übernehmen. Alice wird für den Widerstrebenden zum Anker der langen Fahrt. Es ist die schönste Heimkehr seit John Fords The Searchers.
Ein unkonturiertes Grau, weil auf 16 mm gedreht und auf 35 mm aufgeblasen, sanfte Abblendungen, ein ruhiger Fluss der Bilder, die nicht anders sein könnten, kleine Beobachtungen von großer Selbstverständlichkeit, Gesichter und Worte, alles stimmt, Wenders ist bei sich angekommen.
Stroszek 1976/77
Werner Herzog
Drei Randfiguren der Gesellschaft meinen, dass ihnen ein anderes Leben möglich sein müsste, als ihr bisheriges. Der Berliner Straßenmusikant Bruno Stroszek wird zu Beginn des Films aus dem Gefängnis entlassen. Die Prostituierte Eva wird von Zuhältern terrorisiert und kommt bei ihm unter. Sein Nachbar, Herr Scheitz, ein alter, gebrechlicher Mann, weiß einen Ausweg, denn er hat einen Neffen in Amerika. Sie beschließen, dort ein „neues Leben“ anzufangen, weil alles besser sein wird und „Platz genug da ist“. Wie Kinder im Märchen machen sie sich auf den Weg. Eva hat alleine genug Realitätssinn, um Geld zu verdienen. Wenn sie abhaut, zerbricht der Traum. Wie ein in sein innerstes Reservat getriebener Indianer erreicht Bruno seine letzte Station, ein im Winter trostlos verlassenes Indianerreservat in North Carolina. Während er mit einem Sessellift in einen unsichtbaren Himmel abhebt, fährt sein leerer Truck auf dem Parkplatz im Kreise und setzt in dem Automatenzoo ein „Dancing Chicken“ immer wieder die Scheibe in Bewegung, die es zu tanzen zwingt.
Stroszek ist bei Herzog der Name eines Stammes. Schon in Lebenszeichen (1967/68), seinem ersten Spielfilm, heißt die Hauptfigur so. Stroszek trage, sagte Herzog, „aufgrund des Unmaßes seiner Auflehnung titanische Züge und er sei deshalb elend und schäbig gescheitert, wie alle seinesgleichen.“ („Filmkritik“ 3/1968, S. 176). Der deutsche Soldat, der 1942 auf einer griechischen Insel stationiert ist, verfällt in einen Wahnsinn, der aus der Gewalt um ihn entsteht und die er zurückgibt. Der Krieg ist Herzog allerdings nur ein Vorwand, denn wie alle die deutschen Filmemacher seiner Generation interessiert er ihn gar nicht. Von der Gewalt des Krieges bzw. der Deutschen ist nicht das Geringste zu sehen. Der Krieg ist eines der Zeichen, von denen sich Herzogs Filmfiguren in „einer immer dichter werdenden zeichenhaften Welt gleichsam umstellt“ sehen. Von daher versuchen sie ihre „titanischen“ Ausbrüche. Auf sie kommt es an, nicht auf die Realität, der sie entfliehen. Es ist eine innere Welt. Sie entstammt der Romantik.
Herzog ist von allen derjenige, der Deutschland in seinen Filmen am hartnäckigsten den Rücken zukehrte. Auf die Frage, ob Lebenszeichen auch in Deutschland hätte spielen können, antwortete er: „Nein, niemals, denn in Pasing sind die Menschen nur Leute und die Plätze keinen entrückten Plätze. Denn der Film, das heißt, die Qualität der Geschehnisse entspricht der Qualität der Schauplätze.“ Entrückte Orte sind Kinolandschaften, die von Kunstfiguren bewohnt sind. Wenn Stroszek in Stroszek in Hinterhöfen singt, hat er mit Fritz Lang und F.W. Murnau zu tun und nichts mit dem Deutschland, dem sein blutiger Herbst bevorstand.
Wie Wenders mit Alice in den Städten betritt Herzog Amerika gut gerüstet mit unzähligen Filmen im Kopf. Pflichtschuldig absolvieren ihre „Helden“ die gleichen Stationen, das Empire State Building, die alle gleich aussehenden Vorstädte, die Highways über die weiten Landschaften. Während Wenders mit seinen grauen Bildern und seinem coolen Reisenden eine kühle Distanz wahrt, sucht Herzog die Nähe zu den Menschen und Dingen. Er tut es, um das Scheitern der Hoffnung seiner dem Land so fremden Figuren umso vollkommener zu machen. Es ist ein europäisches, kafkaeskes Amerika, das er dabei entdeckt, weitab von allen amerikanischen Filmen. Seine drei Glücksucher heben sich mit ihrer poetischen und deshalb zerbrechlichen Existenz vor diesem Hintergrund so deutlich ab, als kämen sie von einem anderen Stern.