Falter 11/1987 (gekürzte Version)
Das Whitney Museum in New York hat vor kurzem für eine Million Dollar die Rechte für alle Warhol-Filme gekauft und ist dabei, das Filmmaterial zu restaurieren. Nächstes Jahr soll eine große Retrospektive zum ersten Mal einen Gesamtüberblick über Warhols Filmschaffen geben, denn auch für die Amerikaner sind seine Filme in den letzten 20 Jahren kaum mehr zu sehen gewesen, wenn man von den späten Spielfilmen (Flesh, Trash, Heat, Frankenstein) absieht.
Nach Europa kam überhaupt nur ein Bruchteil der rund hundert filmographisch erfaßten Filme, so u.a. Harlot, Vinyl, My Hustler, Couch, The Chelsea Girls, Kiss, manche nur in verstümmelten Fassungen.
Umso mehr fällt das Aufsehen ins Gewicht, das sie hervorriefen. Schon alleine die Tatsache, dass da jemand in Amerika einen Film gemacht hat, in dem acht Stunden lang nichts als das Empire State Building oder sechs Stunden lang ein schlafender Mann zu sehen ist, also alleine die Beschreibung genügte schon als Provokation. The Chelsea Girls war eines der Filmereignisse von 1968, damals schon zwei Jahre alt.
In der politischen Optik jenes Jahres, soweit sie politisches Bewusstsein nur ideologisch definierte, konnte Warhol allerdings mühelos zum bewusstlosen Apologeten einer verdinglichten Waren- und Konsumgesellschaft gestempelt werden, der die Entfremdung als ästhetische Verewigung des Bestehenden festmacht.[1] Dazu gedrängt, politisch Farbe zu bekennen, wurden Interviews mit Warhol zu humoristischen Seiltänzen der Verweigerung.[2] Als ob sie müssten, wird die damals obligate Frage, ob seine Filme mit Vietnam zu tun hätten, zum Vorwurf. Warhols Antwort:
– Alles hat etwas miteinander zu tun.
Aber Sie kümmern sich nicht bewusst darum?
– Well, das ist so wie … lassen Sie mich denken … nein.
Wenn Jonas Mekas in den neuen Filmen das Bild einer neuen Gesellschaft sieht, wen meint er damit?
– Eine neue Gesellschaft – das sind neue Leute. Ich glaube, neue Leute sind einfach neuer als die alten. Meistens ist nur die Kleidung anders.
Warhol behauptete in diesem Interview, einen Vietnam-Film zu drehen.
Was darin geschieht?
– Wir sagen darin nur, das ist ein Krieg.
Sie zeigen den Krieg?
– Ja. Wir photographieren die Fernseh-Filme über Vietnam. Es ist ein 20 Stunden-Film.
Das Missverständnis des Interviewers liegt darin, dass er Warhol wie seinen Filmen einen politischen Standpunkt abverlangt, den er in dieser plumpen bekenntnishaften Form verweigert und auch gar nicht geben kann. Dabei übersieht er, dass sich in Warhols ästhetischer Vermittlung der scheinbar affirmative Blick grundlegend ändert. Es stimmt, Warhol zeigt nur was ist, er entwickelt keine Utopien, er kritisierte nicht, er will gar nichts Neues machen, er will im Grund nichts machen. Und wenn, dann das Gleiche wie eine Maschine. Dass er gerne eine Maschine wäre, da sie keine Probleme habe, dieser Ausspruch von ihm wurde ihm gleichsam zum Etikett. Sein Studio am Union Square nannte er Factory, und die Produktion seiner Siebdruck-Serien wie seiner Filme lief mit der Planmäßigkeit eines Kleingewerbebetriebes.
Warhol erfand nichts. Er zeigte, was er kannte, Menschen und Objekte. Er zeigte sie in seinen Filme mit einer maximalen Kunstlosigkeit. Er stellte eine Kamera auf, die sich nicht bewegte. Eine Filmrolle nach der anderen wurde eingelegt, so lange der Film halt werden sollte. Was vor der Kamera geschah, hing von den Akteuren ab, die nach ihrem interessanten Aussehen bzw. ihrer Fähigkeit zur Selbstdarstellung ausgewählt wurden. Die Filmrollen mitsamt den Überbelichtungen am Anfang und Ende wurden aneinander gehängt. Anfangs – das ist 1963 – sind die Filme stumm; ab dem 19. Film (Harlot), schon im Jahr darauf, gibt es einen Ton, der meist sehr schlecht ist. Wenn Personen sich im Raum bewegen, geraten sie leicht in die Unschärfe oder aus dem Blickfeld. Manchmal wird gezoomt. Später, 1966, gibt es einfache Schwenks. Die Bildqualität lässt meist zu wünschen übrig, was daher kommt, dass das Filmmaterial z.T. aus ausdatierten Armeebeständen stammte. Warhol war damals nicht nicht so reich wie berühmt. Der erste Film, der seine Kosten einspielte, war Chelsea Girls, der nunmehr ca. fünfzigste Film.
Der Tableau-Charakter der Filme hat mit Warhols Bildern zu tun. Er druckte vergrößerte Filmstreifen auf Plexiglasscheiben und manche Siebdrucke sehen aus wie Filmkader. Was die Filme von den Bildern unterscheidet, ist zunächst die Bewegung, und sei sie noch so minimal, wie etwa das Atmen eines Schlafenden oder der sich über Stunden verändernde Himmel in Empire. Aus der Veränderung ergibt sich das Bewusstsein von Zeit. Es ist eine simultane Zeit, die sich mit der realen Zeit des Betrachters deckt und doch eine andere ist. Der dokumentarische Stil der frühen Filme täuscht: die Wirklichkeit wie die Zeit werden nicht plan übertragen, sie sind sogar weniger präsent als ihre mediale Vermittlung. Bei Warhol vergisst man nie, dass man einen Film sieht. Der in Guckkastenform eingegrenzte Filmraum erscheint wie in einem Spiegel, in dem sich der Zuschauer unversehens wiederfindet, wenn die gefilmten Personen ihn ansehen (was als Blick in die Kamera immer wieder vorkommt) und als Beobachter oder Voyeur in ihr Spiel mit einbeziehen. Die simultane Zeit wird dadurch strukturiert, dass in bestimmten Abständen die eine Filmrolle ausläuft und die nächste beginnt. Eine Manipulation des Zeitgefühls ergibt sich auch daraus, daß Warhol die frühen stummen Filme verlangsamt vorführen ließ, nämlich mit 16 Bildern pro Sekunde statt der aufgenommenen vierundzwanzig. Es entsteht dadurch der Effekt eines Vergrößerungsglases. Die verlangsamt Zeit rückt die Dinge näher.
Die Zeit ist aber auch dramaturgisch gestaltet. Schon dass es 15 Minuten dauert, bis das Empire State Building aus dem Nebel auftaucht, ist ein bewusster Umgang mit der Zeit. In Harlot sitzen und stehen mehrere Personen vor der Kamera, und ihr Schweigen, ihre Gespräche und ihre Aktionen sind so präzise über die 70 Minuten Laufzeit des Films verteilt, dass die Spannung nie abreißt.
Warhols überlange Filme stehen im Zusammenhang mit den Kunstströmungen jener Zeit: John Cage etwa veranstaltete Mammutkonzerte und ein Happening von Wolf Vostell dehnte sich über mehrere Tage. Kunst wurde zur existenziellen Raum- und Zeiterfahrung, die Langeweile mit einschloss. Bei Warhol war es der Kinoraum, der als Ort der Filmerfahrung ins Bewusstsein trat (happened). Der Film ist ein Ereignis und auch die Vorführung selbst.
In seinem Nachruf in der Zeit dämonisiert Joachim Riedl Warhol zu einem Kunst-Mabuse, der ein Rudel orientierungsloser Gesellschaftskrüppel für seine Zwecke ausnützte, sie für einen Tag zum Superstar machte, um sie dann wie Eintagsfliegen abstürzen zu lassen. Auch jene kalt kreischenden Kellermusiker mit Namen Velvet Underground gebrauchte er für seine Spektakel voll „Daseinsverachtung und Lebensüberdruß“, um der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit seinen Lebensstil aufzuoktroyieren.[3] Und der besteht, das weiß man schon seit den sechziger Jahren, nur aus Oberfläche.
Diesem nicht einmal mehr politisch argumentierenden Unsinn ist entgegenzuhalten die Erinnerung. Warhol brachte in den sechziger Jahren eine Erneuerung des Filmsehens wie kaum ein anderer. Die Radikalität seiner Ästhetik, die die Sprache der Bedeutsamkeit negiert und damit einen Bergman oder Antonioni zu Relikten des 19. Jahrhunderts werden ließ, gab dem Blick, wie Helmut Heißenbüttel zu Chelsea Girls schrieb, seine Neugierde wieder und veränderte ihn im Hinsehen. „Diese Veränderung des Blicks greift tiefer und bewirkt mehr als alles, was an formaler oder inhaltlicher Botschaft dem Film als einem Medium (das heißt als einem bloßen Transportmittel) aufgegeben werden kann.“[4]
Was Warhol unbefangen und mit sicherem Gespür für Aktualität zeigte, war erregend modern. Die Dimensionen des Gezeigten ergeben sich aus der exakten medialen Vermittlung von dessen Oberfläche und nicht in seiner Beschreibung. Bloß sehen muss man können.
[1] Georg Alexander: Gedanken zum New American Cinema (II), in Film, Juni 1969, Velber b. Hannover
[2] Rolf-Ulrich Kaiser: Gespräch mit Andy Warhol, in Film, Mai 1968.
[3] Joachim Riedl, in Die Zeit, 27.2.1987,
[4] Helmut Heißenbüttel, in Film 1968, Jahrbuch der Zeitschrift Film .