Aus Tiergeschichten habe ich mir nie etwas gemacht, ich habe auch keine in Erinnerung. Tiergeschichten von Marcel Jouhandeau, in einem Antiquariat, ich zögere. Von diesem Autor gibt es auf Deutsch wenig in Einzelausgabe, aber ausgerechnet Tiergeschichten … Bei zwei Euro ist das Risiko gering, ich kaufe. Ich bin gewillt, diesem Nazifreund und Antisemiten nachzuspüren, auch wenn es nur Tiergeschichten sind, irgend etwas müssen auch sie von der Gedankenwelt des Autors mitzuteilen haben. Immerhin ist die Hauptgeschichte, „Das Leben und Sterben eines Hahns“, die dem schmalen Band den deutschen Titel gibt, mitten im 2. Weltkrieg entstanden. Ein Fingerzeig scheint auch darin zu liegen, dass der Verlag nicht gezögert hat, aus la mort ein schicksalhaftes Sterben zu machen, das Bedeutsameres ankündigt als ein Ende im Suppentopf.
Alles Misstrauen zerrinnt gleich auf den ersten Seiten, wenn Jouhandeau die Tiere beschreibt, Katzen, Tauben, Hunde, Kaninchen etc., die er und seine Frau Elise im Laufe der Jahre als Hausgenossen hatten, und die er liebevoll in allen ihren Besonderheiten darstellt.
Ich mag keine Tauben, er aber schreibt über sie mit solcher Zärtlichkeit, dass ich nahezu beschämt bin. Er gibt ihnen Eigenschaften und Namen von Menschen, ohne sie zu vermenschlichen, und wenn doch, ohne Sentimentalität, und wenn auch mit dieser – es ist wirklich schwer, sich ihm zu entziehen -, dann mit einer bildhaften Genauigkeit, die sofort einleuchtet.
„Die Hitze ist so drückend heute nachmittag, daß meine Tauben, wie sie da, gänzlich ermattet, ein Bein in die Luft recken und einen Flügel an der Sonne schleifen lassen, Galeeren gleichen, die das Dachgesims entlang gestrandet sind.“
„Wenn meine Tauben sich anschicken, in den Trog zu steigen, der am Fenster hängt und in den ich ihnen die Körner ausstreue, gehaben sie sich wie Damen in langen Schleppkleidern, die alles hochraffen, ehe sie den Absprung wagen.“
Das „Bild des Friedens in apokalyptischer Zeit“ bekommt einen Riss – also doch! – als Elise verlangt, dass die Tauben dezimiert werden, und Jouhandeau ihnen den Hals umdreht. Dass die Kaninchen dran glauben müssen, verlangt der eigene Hunger. Dass er das grausame Geschäft selber erledigt, begründet er damit, dass er anderen nicht die gleiche Sorgfalt zutraut. Außerdem gefällt es ihm, imstande zu sein, etwas zu tun, was ihm zuwider ist, und es geschickt zu tun. Als wollte er vorwegnehmen, was ihm zum Vorwurf gemacht werden könnte, jetzt, da der Krieg vorbei ist und das Raunen über seine antijüdischen Hetze („Die jüdische Gefahr“) noch nicht abgeklungen ist, legt er einer Freundin die Vorwürfe in dem Mund:
„Sie töten das unschuldige Tier, das Sie gestern abend noch verhätschelt haben, und dann fragen Sie sich, wieso Sie zu allem fähig sind. Sowas fängt eben so an. Eine solche Tat ist der Vorläufer, die Vorbereitung, ja der Anfang allen Undanks, allen Vergessens, aller Herzlosigkeiten, die dann leichtes Spiel haben.“
Wie geschickt er ist. Diese Vorwürfe – welcher Fleischfresser müsste sie nicht an seiner Stelle zurecht als Gefühlsduselei zurückweisen; und was die Tauben betrifft, kann er auch mit meinem Verständnis rechnen. Dass er sie vorher geliebt hat, ist sein Problem. Auch wenn Schönheit und Rasse der Hühner mitentscheiden, in welcher Reihenfolge sie dem Speiseplan geopfert werden – die weniger ansehnlichen nämlich zuerst -, kann auch in dieser Hinsicht die Auslese nicht anders als menschlich verständlich bezeichnet werden.
Bei der Geschichte von dem Hahn – sie ereignet sich 1943 – windet sich Jouhandeau aus dem Vorwurf der Herzlosigkeit heraus, da er den Hahn in seiner Schönheit und Lebensvollendung zu einem mythischen Wesen macht und ihn gegen das profane Abschlachten verteidigt, wenn auch vergebens, denn diesmal ist es Elise, die kurzen Prozess macht. Er tröstet sich, in katholischer Leidensfähigkeit geübt, damit, dass man sich nicht inniger mit dem vereinigen kann, was man liebt, als dadurch, dass man es isst.
„Die Empfindsamkeit, die nur ein Zerrbild der Empfindung bietet, ist mir verhasst, weil sie unvereinbar ist mit den einfachsten Formen des Mutes und der Aufrichtigkeit. Elise brauchte nichts anders zu tun, als mir, während sie selber mir gegenüber an Fifiots Herzen sich gütlich tat, auf ihrem hübschesten Teller, in feinster Butter braungebacken, seinen Kamm vorzusetzen, um uns alle drei mit dem Tao auszusöhnen. Das war eines jener Festmahle, bei denen ungeschminkt eine Art heiliger Schrecken herrscht, der nichts gemein hat mit der Gleichgültigkeit des Alltagsmenschen und auch den leisesten Verdacht der Grausamkeit auslöscht.“
Das Profane und Alttägliche wird in eine höhere Ebene überführt, wodurch die Grausamkeit sich in nichts weniger als einen heiligen Schrecken auflöst. Elise wird wohl auch gewusst haben, warum sie ihrem Gatten zum Festmahl gerade den Kamm, Symbol des Stolzes und der Eitelkeit, vorsetzte.
Ich stelle mir die Frage: Wenn ein überschaubarer Vorgang wie das Töten und Essen eines Hahnes bereits ausreicht, höhere Ebenen kultureller Sublimation zu mobilisieren, zu welcher Verdrängung führt erst die Grausamkeit des Krieges – genauer: des Naziregimes? Für Jouhandeau und seine Frau ist die Antwort ziemlich einfach: Sie sahen gar nicht hin. Sie begnügten sich mit Ideologien, Worten, Privilegien und Ressentiments, die sich, im Falle der Juden, zum Hass steigerten, aber sie vermieden gerade, was Jouhandeaus tiefe Beziehung zu den Tieren ausmachte: den genauen Blick und die dadurch sich bildende Nähe. Zu den Juden sollte keine Nähe entstehen, sie sollten vielmehr, wie Jouhandeau forderte, für immer verschwinden.
In seinen Tagebüchern beschreibt Jouhandeau eine unerwartete Begegnung mit einem Juden auf einer Straße in München. Der Mann, der ihn an einen Kirchendiener erinnert, trägt einen Judenstern, der gerade erst in Deutschland eingeführt worden war. Er ist verwirrt und bestürzt und sieht in dem Unglücklichen einen „Gefolterten“, dem er gerne seine Sympathie ausdrücken würde, müsste er nicht befürchten, ihm ungewollt Angst einzujagen. Dieses Erlebnis hinderte Jouhandeau nicht daran, in den folgenden Monaten weitere antisemitische Schriften zu veröffentlichen, es änderte an seiner Haltung zu den Juden nicht das geringste.
Er, der sich selbst für verfolgt hielt, wobei seine eingestandene Homosexualität eine nicht geringe Rolle gespielt haben dürfte, und sich mit Parias und Märtyrern identifizierte, sah in dem Mann in München eine zu Herzen gehende Verkörperung des Leidens, aber keine konkrete Person. Der Verfolgte (wie der Hahn in seiner „tragisch“ endenden Schönheit) dient ihm dazu, in schönen Worten die Erhabenheit seiner Gefühle zum Ausdruck bringen zu können und damit „Mut und Aufrichtigkeit“ zu beweisen. Die „Gleichgültigkeit des Alltagsmenschen“ lässt solche feinen seelischen Empfindungen nicht zu. Empfindsamkeit hingegen ist ihm verhasst, da sie ihm den Mut nehmen könnte, Schicksal von Menschen und Tieren geschehen zu lassen. Er unterwirft sich ihm umso eher, als es im „göttlichen“ Diktat seiner Frau auftritt. Auch wenn die seelischen Empfindungen Tränen fließen lassen, der Verantwortung bleibt er enthoben. Empfindsamkeit hingegen ist eine Sentimentalität von Alltagsmenschen ohne höhere „seelische“ Bildung, die Schicksal nicht verstehen und dadurch womöglich auch nicht akzeptieren wie er.
Juni 2003